Harry Kinross White gilt als einer der Größen des klassischen Saxophons. Bereits mit 23 Jahren tourte er mit dem renommierten Raschér Saxophone Quartett durch Europa und die USA. Auch seine Projekte mit Orchester lesen sich dabei wie ein Who‘s who der Klassik-Szene: Silvesterkonzert mit den Berlinern Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle, Auftritte als Orchestersaxophonist mit dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem Balthasar-Neumann-Orchester, dem SWR Symphonieorchester und vielen mehr.

Trotz seines weltweiten Erfolgs ist Harry White bodenständig geblieben: „Wir sind Interpreten, wir dienen der Musik. Es geht wirklich um die Musik, wenn wir musizieren, und nicht um Selbstdarstellung. Das ist eine wichtige Haltung.“ Eine Haltung, die besonders sein Lehrer und Pionier des klassischen Saxophons Sigurd Raschér geprägt hat. Bei ihm studierte White in den 80er-Jahren im US-Bundesstaat New York. „Jede Lektion dauerte drei Stunden“, erinnert sich White. „Demut war die eine Sache, Gründlichkeit die nächste. Man muss sich viel Zeit nehmen, um gute Kunst zu schaffen.“

Sigurd Raschér (Kontrabasssaxophon) mit seinem Schüler Harry White (Sopransaxophon) im August 1989 in Cambridge, New York.
Foto: Anne L. Simko

Aufgewachsen ist Harry White in einer kleinen Stadt in Mississippi, wo er in der Schule schon früh mit Musik in Berührung kam. „Ich hatte mir immer vorgestellt, ich würde Schlagzeug spielen. Als ich dann in der sechsten Klasse war, hat die Lehrerin gesagt, du bist Legastheniker, Schlagzeug wäre für dich zu kompliziert, du spielst Saxophon. Okay, das war ja sehr unkompliziert“, meint White mit einem Schmunzeln. „Nachträglich habe ich gemerkt, sie hatte wirklich ein gutes Bauchgefühl dafür, welches Instrument zu welchem Kind passt. Und tatsächlich habe ich mich sehr schnell in das Saxophon verliebt.“

Klassik auf dem Saxophon?!

Blasmusik, Rock und Jazz – Harry White probierte sich in vielen Stilrichtungen aus, bevor er sich schließlich ganz den klassischen Epochen von Barock bis zur Neuen Musik zuwandte. Obwohl bereits Debussy, Rachmaninoff und Ravel Werke für Saxophon komponiert hatten, galt das klassische Saxophon im Gegensatz zum Jazz bis in die 90er-Jahre als Rarität und war mit Vorurteilen belegt.

Zu Unrecht, wie Harry White eindrücklich bezeugt: „Die Flexibilität, die Vielfältigkeit in der Artikulation und in der Klangfarbe – man kann das Saxophon sehr gut für Pop, Rock und Jazz, für Barockmusik, klassische Musik oder neue Musik verwenden. Es ist fast überall einsetzbar.“ Dafür steht auch das Swiss Saxophone Orchestra, bei dem Harry White seit seiner Gründung 2009 als Konzertmeister fungiert. Das Ensemble vereint Sopran- bis Kontrabasssaxophon, klassische Musik mit Musicals und wird beim Saxophonia Festival des BDB im März 2025 auftreten.

Von den USA nach Europa

Aber wie kam Harry White überhaupt von den USA in die Schweiz? Wegweisend war die Musik. Nach seinem Studium in Mississippi und bei Sigurd Raschér erhielt er 1990 das Angebot, Mitglied des Raschér Quartetts zu werden.

Daraufhin zog White nach Tübingen, wo das Ensemble damals beheimatet war. „Wir sind immer auf Tournee gewesen, über 200 Tage im Jahr. Das war eine besondere Zeit für das Quartett“, erinnert sich White. Mit dem Quartett spielte er zahlreiche Uraufführungen und trat weltweit in den bedeutendsten Konzertsälen auf, darunter etwa die Carnegie Hall, das Lincoln Center New York oder die Berliner Philharmonie. Seit 2001 wohnt Harry White in Zürich und ist als freischaffender Musiker und Pädagoge an der Musikschule Konservatorium Zürich tätig.

Gesundes Üben

An der Zürcher Hochschule der Künste absolvierte White schließlich einen Master of Advanced Studies in Musikphysiologie. Das Fach beschäftigt sich mit den psychologischen und körperlichen Grundlagen des Musizierens: „Wie kann ich mein Üben optimieren? Wie kann ich diese Balance zwischen Stabilität und Flexibilität im Körper herstellen? Man beschäftigt sich auch viel mit Vorbereitung auf mentaler Ebene, damit ich mich im Konzert wohlfühle oder der Vorbeugung von Spiel- und Gesundheitsproblemen.

Harry White beim Saxfest in Zürich 2024.
Foto: Łukasz Dyczko

Das sind die zentralen Themen“, erklärt White. Von diesem Wissen hat der Saxophonist auch selbst viel profitiert und gibt diese Erfahrungen regelmäßig an Instrumentallehrende und Dozierende weiter, zum Beispiel bei seinem Workshop „Gesund und intelligent üben“, den er im Rahmen des Saxophonia Festivals leiten wird. Und wie sieht es mit konkreten Übetipps für zu Hause aus? „In sehr kleinen Einheiten üben und nach fünf bis zehn Minuten eine kleine Spielpause einlegen: kurz aufstehen, sich dehnen und dann wieder ans Instrument. Das klingt für viele sehr fremd. Sie sagen, ich übe eine Stunde, dann mache ich Pause. Aber das Problem bei diesem Verhalten ist, dass die Konzentration sehr nachlässt. Mit viel kleineren Einheiten mit Pausen dazwischen ist die Konzentration höher.“

Julia Kesch