Immer wieder hat es über die Jahrhunderte hinweg besonders innige schöpferische Verbindungen zwischen Komponisten und Komponistinnen gegeben. Einer, der wie kein zweiter über ein gewaltiges Netzwerk in alle Epochen hinein verfügte, war Wolfgang Rihm: Ein „Davidsbündler”, wie ihn sich Robert Schumann nicht hätte besser wünschen können – ein „Erbe”, der seine Fäden an die von Palestrina, Mozart, Brahms und Mahler anknüpfte und Literatur und Malerei als geistigen Nährboden brauchte. Edda Güntert bringt die beiden Wahlverwandten zusammen.

Robert Schumann (1810–1856) Der Netz-Werker

Der Dichter spricht – in Tönen: Schumanns „poetische Musik“ ist vielfach vernetzt mit den Werken der Weltliteratur. Und auch sonst ist der hochsensible Komponist ein vielseitiger und vielstimmiger Netz-Werker: Ob als Musikredakteur und Gründer der bis heute bestehenden „Neuen Zeitschrift für Musik“, als ausgewiesener Kenner der „Alten Meister“, als Freund, „Davidsbündler“ und Mentor: Schumann spinnt dichte Fäden über alle Künste und alle Epochen hinweg – um sich am Ende, als alle Fäden reißen, im Schweigen einzuspinnen

Eigentlich hatte er Dichter werden wollen. Die geplante Karriere als Pianist scheiterte – an einem kaputtgeübten Finger. Seine sprachlich-literarische Begabung jedoch machte der hoch gebildete Robert Schumann („Es affiziert mich alles, was in der Welt vorgeht.“) lebenslang für seine Kompositionen fruchtbar: In einzigartiger Weise vermag seine Musik, etwa in den Klaviervor- und nachspielen seiner wunderbaren Lieder, den dichterischen Versen noch in feinsten Bedeutungsschwingungen nachzuspüren. Sogar eingefleischte Literaturkenner und -wissenschaftler können von ihm lernen, da er gerade durch seine Musik oft verblüffend andere Zugänge zu Texten eröffnet und ihnen verborgene Seiten zu entlocken vermag. Schumanns Klavier spricht: Auch seine wortlose, rein instrumentale Musik ist eine „poetische“, weil sie vielfach von intertextuellen Bezügen durchdrungen ist. Schon der junge „Brausekopf“ – nicht nur von der kleinen Clara Wieck ob seiner genialischen Improvisationskünste, seines Humors und seines irrlichternden Ideenreichtums bewundert – liebte es, mit „hineingeheimnisten“ Gedichtversen, Hinweisen auf Werke anderer Komponisten und feinen Motiv Fäden zwischen seinen eigenen Werken die Knobelkünste seiner Hörer herauszufordern – weshalb man gut daran tut, sich ein wenig einweihen zu lassen, um im karnevalesken Masken-Labyrinth nicht den „Silberfaden der Fantasie“ zu verlieren.

Poetische Musik eines weit verzweigten „Davidsbündlers“

Genau dieser war für Schumann ein Merkmal guter Musik: In die Tänze seines halb realen, halb fiktiven berühmten „Davidsbundes“, angeführt von Schumanns zwei Masken-Ichs „Florestan“ und „Eusebius“, durfte sich nur einreihen, wer poetische, d. h. nicht allein dem Goliath oberflächlicher Virtuosenklingelei unterliegende Musik schrieb. Clara Wieck, Frédéric Chopin, Franz Schubert, später der junge Johannes Brahms, aber vor allem die geliebten Ahnherren Schubert, Beethoven und Bach, waren Teil dieses Netzwerkes. Während Bachs Werke in ihrer motivischen „Combinatorik“ und ihrer polyphonen Vielstimmigkeit Schumanns eigenes, von „Stimmen“ durchwandertes Werk lebenslang inspirierten, diente ihm Beethoven, dessen als „bizarr“ geltende Spätwerke Musikredakteur Schumann als einer der ersten in ihrer Bedeutung für die Musikgeschichte würdigte, auch als Liebesbote zwischen ihm und Clara: Der musikalische Aufschrei der ersten Takte seiner großen C-Dur-Klavierfantasie ist ein wortloses Zitat des Liedes „Nimm Sie hin denn, diese Lieder“ aus Beethovens Zyklus „An die ferne Geliebte“. Ein romantisch-poetisches Liebesgeständnis in Reinform – und eine musikalische Verzweiflungstat, wollte doch der ehrgeizige Vater des Klavierwunderkindes Clara Wieck auf keinen Fall den zwar genialen, aber psychisch labilen, mit Angstattacken, Depressionen und Alkoholsucht kämpfenden Schumann zum Schwiegersohn. Dass Schumanns wortloses Leiden 1840 mit der per Gerichtsbeschluss erkämpften Ehe mit Clara in einem einzigartigen schöpferischen Ausbruch an Liedern höchster Qualität mündet, gehört zu den bewegendsten Momenten der Musikgeschichte: Wort und Ton finden im berühmten Liederjahr 1840 in einer nie zuvor dagewesen Intensität und wechselseitigen Beleuchtung zusammen: „Ach Clara, wie herrlich ist’s, für Gesang zu schreiben …“. Die Zyklen „Dichterliebe“, basierend auf Gedichten Heinrich Heines, die Liederzyklen zu Dichtungen Eichendorffs, Rückerts, seines Hausgottes Goethe und vieler anderer, sind Meilensteine der Liedkunst. Seine Klavierstücke und -zyklen wie die „Davidsbündlertänze“, „Carnaval“, Skizze zu Schumann „Kreisleriana“, die „Waldszenen“, die „Symphonischen Etüden” und vor allem das große Klavierkonzert a-Moll, (unmittelbares Vorbild für Edvard Griegs Klavierkonzert gleicher Tonart) beeinflussten Komponisten wie Tschaikowsky, Debussy, Ravel, Rachmaninow, Skrjabin und Bartók. Den späteren, bis heute im Schatten der frühen Lieder stehenden Liederzyklen ab 1849 wächst an Reife und orchestraler Fülle zu, was Schumann – ganz typisch für sein Schaffen – im sich Schritt-für-Schritt-Erarbeiten bestimmter Werkgattungen zueignete: Nach den eher kleinen Formen schrieb er die berühmte „Frühlings“und die „Rheinische“ Sinfonie, die (bald schon unheilvoll von der Wahrnehmung von Schumanns Erkrankung umschatteten) Konzerte für Violine und Cello sowie die grandiosen, seine intensive Beziehung zum Werk Goethes spiegelnden „Szenen aus Goethes Faust“, ein Zentralwerk der Faust-Rezeption, in dem Schumann als erster Szenen aus dem als unvertonbar geltenden Faust II in Musik setzt. Als er 1849 in Düsseldorf die Stelle des städtischen Musikdirektors annimmt, ist der hochsensible, empfindliche Schumann den mit der Stelle verbundenen Ansprüchen nicht gewachsen: Seine tiefen Selbstzweifel, Depressionen und Angstattacken verbinden sich unheilvoll mit den Spätfolgen einer wohl in der Jugendzeit erlittenen syphilitischen Erkrankung. Schumann spinnt sich immer mehr im Schweigen ein. Einzig der junge Johannes Brahms, den er in seinem Haus aufnimmt und der ihm seine ersten Werke vorspielt, vermag ihm einen letzten großen Text abzuringen, den Aufsatz „Neue Bahnen“, in dem Schumann noch einmal die Ideale seiner Jugend beschwört und Brahms als Messias einer neuen poetischen Zeit feiert (was für den sensiblen Brahms wohl eher Last denn Freude gewesen sein dürfte).

Im Schatten: Die bedeutenden Spätwerke

Am Ende ist Schumann wieder dort, von wo sein Lebensbogen seinen Anfang nahm: In seinem „Dichtergarten“ schart er seine liebsten Dichter in ausgewählten Zitaten ein letztes Mal um sich. Aufgerieben im Kampf zwischen „Engelsstimmen“, die ihm Melodien eingeben und „Dämonen“, die ihn in Gehörhalluzinationen quälen, schreibt er mit den „Geistervariationen“ einen letzten Klavierzyklus, der wehmütig um ein schon früher von ihm verwendetes Thema kreist. Mit Schumanns Sprung in den Rhein und seiner Einlieferung in die Endenicher Heilanstalt 1854 reißt auch der letzte haltgebende Faden. 1856 stirbt Schumann in Endenich. „Die Musik schweigt jetzt“, lautet eine seiner letzten Zeilen – zum Schweigen verdammt scheint lange Zeit auch ein Großteil seines Werkes zu sein, späte bzw. zu einem Großteil 1849 und danach erschienene Kompositionen wie etwa die „Szenen aus Goethes Faust“, das Cello- und das Violinkonzert, und auch die meisten seiner späten Lieder.

Vor allem die großangelegten „Szenen aus Goethes Faust“, vielfach als „Fragment“ einzig im Sinne von „unvollendet wegen geistiger Umnachtung“ geschmäht, erscheinen als faszinierend horizonthafter Vorgriff auf spätere Anverwandlungen des gewaltigen „Faust“-Stoffes, der Schumann von Jugend an vertraut war und ihn als unbestechlichen Kenner vor allem des Goetheschen Spätwerkes und der Fragment-Ästhetik der Frühromantik ausweist. Dass solche bedeutenden Schöpfungen und andere Werke Schumanns nicht mehr im Schweigen verharren müssen, ist neuerer wissenschaftlicher Forschung vor allem zum Ineinander von Literatur und Musik bei Schumann und vor allem auch dem Einsatz von Dirigenten, Sängern und Musikern wie Benjamin Britten, Nikolaus Harnoncourt und Christian Gerhaher – und Wolfgang Rihm – zu verdanken, für den Schumann unverrückbar eines immer war: „Gegenwart“.

Skizze zu Schumanns weltlichem Oratorium „Das Paradies und die Peri“, op.50, 1843. Foto: Alamy Stock

Wolfgang Rihm (1952–2024) Der schreibende Komponist

Sein pflanzenhaft wucherndes, alle Gattungen erfassendes umfangreiches Oeuvre, lebt von der Überzeugung, dass Musik stete Veränderung ist: Jede Schöpfung folgt einer inneren keimhaften Eigengesetzlichkeit, der Wolfgang Rihm als „Gärtner“ folgt – und die der Eigen-Art ausführender Musiker („Ich brauche Menschen“) bedarf, um immer wieder neu und anders zu erstehen. Tief wurzelnd in der Kulturgeschichte, im steten Dialog mit Kunst und Musik aller Epochen, ist dieser im Wortsinn herausragende Künstler zudem ein Lied-und Wortkomponist, dessen funkelnd witzigen, dichten Sprachbildern das Wissen eingeschrieben ist, dass alles Reden über Musik per se unzulänglich ist – eine stete Zu-Mutung für jeden, der über sein Schaffen schreiben will …

Wie kommt man einem Komponisten nahe, dessen Werk über 500 Schöpfungen aller Gattungen und Besetzungen umfasst und der die Musik unserer Gegenwart geprägt hat wie kein anderer? Klarinettist, Komponist und Rihm-Schüler Jörg Widmann, dem Rihm – wie einst Johannes Brahms für Richard Mühlfeld – mehrere Klarinetten-Werke auf den Leib (ein „sinnlicher“, bildstarker Ausdruck, wie Rihm sie liebte) geschrieben hatte, betonte oft genug: Wenn man meine, ihm nahe zu sein, sei er schon längst wieder irgendwo anders.

Rihm. Versuch. Fragment

Eine Annäherung liegt vielleicht in diesem Gedanken: Alles Geschaffene kann nur Fragment sein. Ein „hälftig Erreichtes“ (Rihm). Wie, wenn man einen ganz anderen Beginn gewählt hätte – wie hätte sich das „Werk“ dann entwickelt? Genau darauf war Rihm, der nach Studienjahren in Freiburg bereits mit Anfang 30 in seiner Heimatstadt Karlsruhe Professor für Komposition wurde und als 11-Jähriger zu komponieren begonnen hatte, immer neugierig. Er riet vor allem seinen Schülerinnen und Schülern dazu, Kategorisierungen wie „fertig“, „falsch“ oder „richtig“ zu streichen, ihren Ausdruckswillen – bei aller vorauszusetzenden Handwerkskunst – frei laufen zu lassen, sich im Schaffensprozess überraschen zu lassen von dem, was das Werk selbst im Prozess des Entstehens für den – idealerweise mit der Hand – Schreibenden parat hält. Ein Bild, das an alte Bilder und Vorstellungen von der göttlichen Eingebung erinnert: Der Schaffende als Medium für das, was durch ihn in die Gestalt drängt. „Das Werk wird, wie es will“: Eines von diesen unzähligen dichten Wortbildern Rihms, die in ihrer Bild- und Sprachkraft erstaunen und bewegen, jedenfalls nie gleichgültig zurücklassen. Rihm – zweimal sitzengeblieben, da Komponieren wichtiger war – war enzyklopädisch geschult an den Malern, Dichtern, Denkern, Mystikern und Philosophen aller Epochen und Provenienzen, deren Werke er in Töne hob. Ein Seismograph der Worte, wie der Dichterkomponist Robert Schumann noch die feinsten Schwingungen mit und in Musik aufspürend.

Davidsbündler Rihm und Schumann

Fragen interessierten Rihm offenbar mehr als die Antworten, das Offene mehr als das „Geschlossene“. Tatsächlich sind Fragment und Bruchstück bestimmende Formen in Rihms Werk, schon ablesbar an Werktiteln wie „Bruchstücke“, „Fetzen“, „Chiffren“, „Studie“, „Versuch“ oder „Szenen“. Genau hier sind wir bei seiner lebenslangen Liebesbeziehung zu Robert Schumann, mit dem der Schumann-Preisträger und „Davidsbündler“ Rihm nicht nur in seinem Werk „Fremde Szenen“ (Klaviertrio) in einen spannenden, offenen Dialog tritt. Vieles erinnert an Schumann: die ausgreifende sangliche Geste, die schnellen abrupten Wechsel, repetitive rhythmische Strukturen – ohne doch je Zitat zu sein. Die schiere Werkgröße von Bach und Beethoven, die Schumann so intensiv rezipierte wie Rihm, brachte den bestens mit der Ästhetik der Frühromantik vertrauten Schumann dazu, auf Zyklen kleiner Miniaturen und auf kreishafte Strukturen, auf Brüche und aphoristische „Szenen“ (siehe etwa seine „Szenen aus Goethes Faust“) zu setzen. Auch das Spiel mit verschiedenen Identitäten, Andeutungen und Chiffren, das sich an einen wachen, bewusst „mit-schaffenden“ Hörer wendet, das Changieren zwischen vielen „Ichs“ (Florestan und Eusebius): Alles Dinge, die man auch bei Rihm findet, der, wie Schumann, eine hochgebildete Mehrfachbegabung und, wie er, ein schreibender Komponist war. Dies immer im Wissen, dass das Wort nicht an die Musik heranreicht – und man doch auch mit Worten, vor allem mit den für Rihm so typischen, gewöhnliche Denk- und Sprachmuster gerne auf den Kopf stellenden Wortschöpfungen „musizieren“ kann – und das heißt hier ganz im Sinne Goethes und seines Faust: im menschlich Unzulänglichen an das Un-Zulängliche heranlangen kann. Kunst als „Dennoch“, als abgerungenes Bekenntnis zum Menschen als „grunddefizitäres Wesen“ (Rihm), der dennoch zu Wunderbarem bestimmt ist. Voraussetzung dafür: Wie Goethe die Ambivalenz der menschlichen Existenz, die faustische Un-Zufriedenheit über das notwendige Fragmenthafte allen menschlichen Schaffens immer wieder in neue Schöpfungen umsetzen. Das organisch-naturhafte Wachstum seiner Werke, die sich oft aus keimhaften Intervallen bzw. Intervallfolgen entwickeln, in eruptiver, im Wortsinn schlagkräftiger Kraft große sinnliche Gegenwärtigkeit und eine weite Spanne von dämonischer Abgründigkeit zu zarter kammermusikalischer Intimität und sphärischer Entmaterialisierung entfalten, hat viel mit Goethes Vorstellung von der inneren Gesetzlichkeit aller Dinge zu tun: „So musst Du sein, Dir kannst Du nicht entfliehen“ – Urworte, die Rihm, der wie Schumann vor allem das lange umstrittene Goethesche Spätwerk schätzte, beständig gedanklich umkreiste und denen er in seinen zahlreichen Goethe-Vertonungen auf die Spur zu kommen suchte.

Über die Linien

Wer so beständig um letzte, existentielle Fragen kreist, ist dem Transzendenten (transcendere = überschreiten) immer nahe – auch wenn Rihm, in Übereinstimmung mit seiner Ablehnung von festschreibenden Dogmen und letzten Wahrheiten, eher einen „kapellenlosen Glauben“ pflegte, wie Rainer Maria Rilke schrieb. Poetische Verse Rilkes oder Michelangelos oder anderer weltlicher, vor allem auch zeitgenössischer Autoren, verschränkte er ganz bewusst mit solchen der Bibel oder liturgischer Herkunft. Der sakrale Raum, die jahrhundertealte ungebrochene Kraft der lateinischen Sprache und Bedeutungstiefe der alten Texte, waren ihm wie die Kirchen-Orgel seit frühester Jugend innig vertraut und Teil seiner umfassenden Bildungsliebe. Entsprechend gewichtig ist – im Verein mit den großen Opern und Werken für das Musiktheater, den Streichquartetten, den Sinfonien und Konzerten – der Werkbereich der geistlichen Werke. Hier tritt vor allem seine Auseinandersetzung mit dem Thema „Passion“ (Tod und Auferstehung) hervor, insbesondere in seinem Dialog mit dem Requiem als einer der zentralen, folgenreichsten Gattungen der Musikgeschichte. Auch hier erscheint Rihm, etwa in den groß angelegten, an Brahms und Verdi gemahnenden „Requiem-Strophen“ oder auch in „Et Lux“ (Vokalensemble und Streichquartett), in dem Text-Fetzen des Requiems in einen beständigen, fluktuierenden Klangstrom eingewoben erscheinen, als ein ebenso demutsvoller wie selbst-bewusster „Anknüpfender“. Wie in den Requien von Fauré und Brahms, beides Referenzwerke für Rihm, verschmilzt er Sakrales und Weltliches, Verstörendes und Hoffnungsvolles. Wie sehr Rihm, der kenntnisreiche Chorsänger und Liebhaber der „vox humana“, dabei die musikalischen „Sprechweisen“ und ikonographischen Konstanten, ausgehend von Mittelalter und Renaissance, im Gewand seiner Musik in ihrer Schönheit im Wortsinn vergegenwärtigt, machen etwa die „Sieben Motetten nach Passionstexten“ eindrücklich und bewegend hörbar.

Der Erbe. „Ist fortzusetzen“.

Er sei nicht „vom Himmel gefallen“ – er sei „Erbe“. Rihm wollte nichts in die Luft sprengen – sondern als Netz-Werker die Fäden aufnehmen und weiterspinnen: „Ich will Musik nicht vernichten, ich will sie verlebendigen. Ich will hineingehen in das, was schon da ist – und es von innen zum Leuchten bringen.“ Dass der Stockhausen-Schüler sich nicht dem Diktat einer puren Versachlichung unterwarf, atonale Musik und serielle Techniken nicht als Dogma verstand, mit traditionellem Instrumentarium arbeitete und der Musik ihre emotionale, bewegende Kraft zu erhalten suchte, hatte schon zu Beginn seiner Karriere für scharfe Kritik gesorgt. Aber selbst mit so anders gearteten Größen wie Luigi Nono, Pierre Boulez, mit Dirigenten wie Claudio Abbado und Ingo Metzmacher, mit Solisten wie Anne-Sophie Mutter, Christian Gerhaher und Jörg Widmann pflegte er innigen Austausch. „Ich brauche Menschen“ ist sicher eines seiner schönsten Worte zu diesem beständigen künstlerischen Dialog, der ihm unzählige Auszeichnungen einbrachte – die er jedoch wie die vielen Werkaufträge nicht als etikettierende „Preise“, sondern als Zu-Neigung, als Dialogangebote sah, die er mit seiner Kunst aufgriff. Bei allem Streben nach Transzendenz: Rihm war ein sehr diesseitsfroher, selbstironischer, sehr dem irdischen Genuss (Wein, Essen, eine gute Zigarre) lust- und humorvoll zugewandter Mensch. Vielleicht, weil er hör(„…, weisch?“) und fühlbar tief in der Heimat verwurzelter Badener war – der in Badenweiler im Rahmen der „Römerbad Musiktage“, die unter Klaus Lauer Größen wie Pierre Boulez und Pierre-Laurent Aimard ins Markgräflerland brachten, einige Uraufführungen seiner Werke erlebte. Dessen Großvater den Musikverein Knielingen bei Karlsruhe dirigierte und einen Marsch „Gruß an Karlsruhe“ komponiert hatte. Ob vielleicht nicht auch daher seine goethisch „lässliche“, schubladenfreie Haltung rührte, die das Große wie das Kleine, den groß angelegten Klangapparat wie den kleinen, zart humorvoll-melancholischen Walzer umfasste?

Partitur Reinschrift, S. 1 „Gejagte Form“ für Orchester (1995–96). Sammlung Wolfgang Rihm, Paul Sacher Stiftung, Basel.

Im Juli 2024 ist Wolfgang Rihm nach langer Krankheit gestorben. Tätig bleibend, bis an die allerletzte Linie das Schaffen der zunehmenden Schwäche abringend. Solchen rastlos kreativen Menschen gegenüber sei, so Goethe, das Universum verpflichtet, eine neue Daseinsform zu geben, um das Begonnene fortzusetzen. Im Falle Rihms durchaus vorstellbar.