Musik für Blasinstrumente hat eine lange Geschichte, in der es immer wieder wichtige Impulsgeber gegeben hat. Georg Philipp Telemann und Paul Hindemith verbindet eine besondere Liebe zu Blasinstrumenten, von denen sie die meisten sogar selbst spielen konnten. Warum es sich – nicht nur für Bläserinnen und Bläser – lohnt, sich in beider Werk umzuhören, beleuchtet Edda Güntert in zwei neuen Portraits der Reihe „Komponistinnen und Komponisten in der BDB-Musikakademie“.
Paul Hindemith (1895–1963) Musicus ludens
Bach lässt er in seinem „Ragtime (wohltemperiert)“ zu afroamerikanischen Synkopen jazzen, für den „King of Swing“ Benny Goodman schreibt er ein neoklassisches Klarinettenkonzert – und gibt Spielanweisungen wie „Tonschönheit ist Nebensache“. Hindemith war ein kenntnisreicher Grenztänzer zwischen Epochen und Stilen, ein spielerischer Allrounder, der nahezu alle Instrumente beherrschte, ein humorvoller „Bürgerschreck“, der handwerkliche Präzision und Spielzeugeisenbahnen liebte – und ein mutiger, offener Geist: Zu offen für die Nazis, die den „atonalen Geräuschemacher “ zur Emigration in die USA zwingen …
Wer Paul Hindemith besuchte, musste damit rechnen, sich bald auf dem Boden liegend wiederzufinden: Egal, ob berühmter Pianist oder Dichter von Weltruf – alle hatten sie, mit Stoppuhr und genauen Fahrplänen versehen, mit Hindemiths meterlanger Modelleisenbahn zu spielen. Bahnstrecken wie die von Freiburg über Himmelreich hielt der Komponist, ein begeisterter Trainspotter wie Antonín Dvořák, detailgenau auf Zetteln fest. Am Schluchsee, im badischen Lenzkirch, vollendete er 1935 eines seiner großen Meister werke, die Oper „Mathis der Maler“.
Bürgerschreck und unkonventioneller Vordenker
Das Ineinander von Spiel und akkurater Genauigkeit, Humor und Ernst, trifft den Kern von Hindemiths Werk. Dem „Homo ludens“ diente das Spiel zur Entfaltung seiner kreativen Experimentierfreude und seiner Lust an der Provokation, die dem einstigen Geigen-Wunderkind und besten Bratscher seiner Generation den Ruf eines „Bürgerschrecks“ einbrachte. Mit technisch teuflischen Rasereien, der heftig auffahrenden Leidenschaft seiner frühen Orchesterlieder, mit Sirenengeheul und allerlei experimentellen Geräuschen schockierte der junge Wilde ebenso wie mit skandalumwitterten Opernprojekten wie „Sancta Susanna“: Dass diese Oper, die das sexuelle Begehren einer Nonne mit Anklängen an Wagner, Strauss und Debussy und in expressionistischer Lust am Bruch mit Konventionen feiert, nichts von ihrer Sprengkraft verloren hat, zeigt der riesige Skandal, den die Inszenierung durch die Performance-Künstlerin Florentina Holzinger noch 2024 ausgelöst hat. Dem romantisch-genialischen Ich-Kult setzte er das Konzept der „Neuen Sachlichkeit“ entgegen: Musik und Musizieren stellte der bei aller intellektuellen Brillanz stets bodenständige und nahbare Hindemith in den Dienst an der Kunst und des menschlichen Miteinanders. Einer konventionell erstarrten Bach-Rezeption erteilte der profunde Bach-Kenner, der selbst ein Meister des Kontrapunkts war und sich mit Fugen, Präludien, lateinischen Werktiteln und traditionsreichen Gattungen fest in das musikalische Erbe einschrieb, mit seinem „Ragtime (wohltemperiert)“ eine bereits in den Anfangstakten hörbar krachende Absage: Bachs Fuge Nr. 2 in c-Moll lässt er auf einen wild grimassierenden Ragtime à la Scott Joplin tanzen – um gleichzeitig damit als einer der Ersten zu verdeutlichen, wie nah sich Barockmusik, Tanz, Unterhaltungsmusik und Jazz sind.
Hochbegabter Netzwerker, Handwerker, Technikfreak
Zu den Eulenspiegeleien, mit denen der hochgebildete Hindemith seine Mitmenschen neckte, gehörten auch starre Denkmuster auflösende Spielanweisungen wie diese hier: „Tonschönheit ist Nebensache“. Der Barock-Tausendsassa Georg Philipp Telemann, der deutsche Vortragsbezeichnungen eingeführt hatte und wie Hindemith Ernstes und Skurriles problemlos miteinander verwob, hätte seine helle Freude daran gehabt. Nicht nur die Liebe zur Bratsche, deren Solo-Geschichte mit Telemanns Bratschen-Konzert beginnt und für die Hindemith bedeutende Werke schrieb, wäre Gesprächsthema zwischen den beiden gewesen. Wie der lange in Frankfurt wirkende Barock-Kollege, so war auch der 1895 in Hanau geborene Hindemith eine an Kreativität geradezu überschäumende Mehrfachbegabung. Sein Schreibtalent lebte er in eigenen Texten, Opernlibretti und Vertonungen vor allem zeitgenössischer Poesie (u. a. Georg Trakl, Else Lasker-Schüler und August Stramm) aus. Bedeutende zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler gehörten zu seinem Freundeskreis, darunter Igor Strawinsky, Béla Bartók und Benny Goodman. Die beiden letzteren waren Kammermusikpartner des wegen seines „kulturbolschewistischen“ und „atonalen Geräuschmachens“ von den Nazis zur Emigration in die USA gezwungenen Komponisten, der sein Klarinettenkonzert (1947) Goodman widmete. Auch als Zeichner war Hindemith ein Ausnahmetalent: Liebevolles Leitmotiv seiner unzähligen Karikaturen, grotesken Motive und Wandmalereien ist das Sternzeichen seiner Frau Gertrud. Den kleinen Löwen lässt der Komponist z. B. durch die Notenlinien seines Klavierzyklusses „Ludus tonalis“ purzeln – ein typisch Hindemithsches Augenzwinkern in all den anspruchsvollen Präludien und Fugen, die in der Nachfolge von Bachs „Wohltemperiertem Clavier“ stehen. „Augenmusik“ hätte Bach-Fan Robert Schumann diese Musik genannt: Ihr Schöpfer setzte sich als einer der ersten vehement für das Spätwerk Schumanns ein, das noch bis in die 2000er-Jahre als Dokument krankheitsbedingten Verfalls galt. Kompositorisches „Handwerk“ und fantasiebegabtes Spiel halten sich nicht nur im „Ludus tonalis“ die Waage: Ein Ideal, das Hindemith zeitlebens pflegte, das sich aber vor allem nach seiner wilden Frühphase mit seiner wachsenden Skepsis gegenüber dem radikalen Fortschrittsdenken seiner Generation ausprägte und zum Kern seines Schaffens und Denkens wurde. Wie groß seine Faszination für technische Innovationen in den 20er- und 30er-Jahren war, zeigen Hindemiths Begeisterung für den Film (z. B. das Filmmusik-Projekt „Der Lindberghflug“, eine Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht und Kurt Weill) und für das Radio, für das er u. a. sogenannte „Funk-Kantaten“ schrieb. Elektrisiert war er vom Trautonium, einem Vorgänger des Synthesizers, dessen Entwicklung Hindemith maßgeblich vorantrieb: Damit ist er einer der Gründerväter der elektronischen Musik!
Faszinierender Impulsgeber – nicht nur für die Blasmusik
Hindemith – ein Langweiler? Ein rückwärtsgewandter „Kontrapunktfanatiker“, der zu Recht aus den Spielplänen von Opern- und Konzerthäusern verschwunden sei? Wer sich vergegenwärtigt, wie folgenreich die Impulse waren, die von Hindemiths Denken und Schaffen für die Musik des 20. Jahrhunderts ausgingen, kann die Vernachlässigung, der sein Werk in den letzten Jahrzehnten anheimfiel, nicht nachvollziehen. Ein Grund – neben der Kritik aus den Reihen der Vertreter einer strikt angewandten Atonalität – mag die sprichwörtliche Un-Fassbarkeit seiner künstlerischen Persönlichkeit sein: Hindemith, der nach seiner Vertreibung durch die Nazis in der Türkei, der Schweiz und den USA wirkte und nach dem Krieg wesentlich am Wiederaufbau des kulturellen Lebens in Deutschland beteiligt war, war Komponist, Musikschriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Hochschullehrer und Musikforscher in einer Person. Mit seinen Aufführungen von Werken aus Renaissance und Frühbarock (bei seinem Rekonstruktionsversuch von Claudio Monteverdis Oper „Orfeo“ 1954 spielte der junge Nikolaus Harnoncourt Cello), stieß er die Alte Musik-Bewegung an.
In seinem umfangreichen Werk schuf er einen vielstimmigen Kosmos, in dem es zwischen den Künsten und Stilen, zwischen „E“ und „U“, keine Trennung gab: Eine „Harmonie der Welten“, von der er seinen Helden Johannes Kepler in der gleichnamigen Sinfonie und Oper in einer orchestralen Opulenz träumen lässt, die bei aller „Sachlichkeit“ doch dem musikalischen Erbe huldigt und zugleich den grandiosen Instrumentierungsmeister Hindemith hören lässt. Wie Telemann hatte er sich das Spiel nahezu aller Instrumente selbst beigebracht: Die intime Kenntnis etwa der verschiedenen Blasinstrumente lässt ihn in den Bläsersonaten die ureigenen Charakteristika von Flöte, Klarinette, Fagott, Oboe etc. in faszinierender Weise entfachen. Im typischen Miteinander von herber Klanglichkeit, schroffzupackenden Partien, zartem Lyrismus und humorvollen, technisch anspruchsvollen „Bocksprüngen“ schafft Hindemith in den Sonaten dem jeweiligen Instrument faszinierende Entfaltungsmöglichkeiten.

Skizze zu einer Fragment gebliebenen Sonate für Posaune (1939). Mit freundlicher Genehmigung des Paul Hindemith Institutes Frankfurt.
Den Bläsern und der Blasmusik galt sein besonderes Interesse: Dem ehemaligen Regimentsmusiker, der mit „Minimax. Repertorium für Militärorchester“ (für Streichquartett) eine hinreißende Parodie auf die Marsch- und Unterhaltungsmusik seiner Zeit geschaffen hatte, lag viel an einer Förderung der Laien- und Amateurmusik. Zum einen schuf er zahlreiche pädagogische Musikspiele für Kinder und Jugendliche – zum anderen rief er als Spiritus Rector der Donaueschinger Musiktage 1926 Komponisten dazu auf, neue, niveauvolle Werke für Blasorchester zu schreiben. Ein Bestreben, dem seine „Konzertmusik für Blasorchester“ op. 41, nach der Emigration in die USA die „Symphony in B flat for Concert Band“, entsprang. 1925 hatte Hindemith ähnliche Impulse für die Chormusik gesetzt: Bis heute sind seine Vokal- und Chorwerke, darunter die einzigartig schönen „Six Chansons“ (Rainer Maria Rilke) oder die im Todesjahr 1963 entstandene „Messe für gemischten Chor a cappella“ ein reicher Schatz für die menschliche Stimme – das Instrument schlechthin für Paul Hindemith. Und immer wieder umkreist sein Werk, vor allem die Oper „Mathis der Maler“ die zentrale Frage: Kann, soll oder muss sich der Kunstschaffende angesichts von Krieg und Krisen engagieren? Aktueller kann ein Komponist kaum sein – und nichts ist so lohnend, als sich in diesem Kosmos faszinierender Musik staunend umzuhören und in den zunehmend lauter werdenden Ruf einzustimmen: Hindemith – her damit!
Georg Philipp Telemann (1681–1767) Im Paradiesgarten der Musik
Barocker Superstar, Autodidakt, Multitasker und Networker, Geschäftsmann, feinsinniger Blumenliebhaber und Poet … all das – und noch mehr! – ist Georg Philipp Telemann. In seinem form-und farbenreichen musikalischen Garten ist so manches Meisterwerk zu entdecken. Mit der Monumentalisierung seines Freundes Johann Sebastian Bach im 19. Jahrhundert war eine Herabsetzung Telemanns verbunden, von der sich sein erstaunliches, kaum zu überblickendes Werk, darunter Maßstäbe setzende Solokonzerte, Opern, große Passionen und Kantaten, erst seit wenigen Jahrzehnten erholt …
Bach? Aber nein: Telemann, den europaweit tonangebenden Komponisten und Musikdirektor Hamburgs, wollte die Stadt Leipzig 1722 für das ehrenwerte Amt des Thomaskantors haben. Bereits in seiner Leipziger Studentenzeit (nur der besorgten Mutter zuliebe hatte er dort ein Jurastudium begonnen) hatte sich Telemann in der Stadt einen Namen gemacht: Als Leiter der Oper, als Schöpfer neuartiger geistlicher Werke und mit der Gründung des bürgerlichen „Collegium musicum“, einem aktuelles Repertoire spielenden Studenten-Ensemble, das Bach später übernehmen und aus dem das berühmte Gewandhausorchester hervorgehen sollte. Das Pokerspiel mit dem Hamburger Stadtrat um „Mehr Gehalt – oder Leipzig“ gewann schließlich Telemann: Hamburg zahlte mehr – Telemann blieb und macht Hamburg zu einem Mekka der Musik, so wie er schon zuvor Frankfurt zu einem blühenden Musikzentrum geformt hatte. 46 Jahre prägte er als Lehrer am Johanneum, als Leiter der fünf Hauptkirchen und der Oper am Gänsemarkt, als bestens vernetzter Musikunternehmer und geschäftstüchtiger Verleger das musikalische Leben der Hansestadt. Dazu gehörten auch sogenannte „Kapitänsmusiken“ zur festlichen Unterhaltung für die Feiern der Hamburger Admiralität. Ein Garten besteht nicht nur aus Rosen und Tulpen, sondern eben auch aus allerlei Blattgrün – und so hatte für Gartenfreund und Blumenzüchter Telemann, der auch im „Orchester-Garten“ instrumentale Klangfarben und kühne Harmonik höchst effektvoll einzusetzen wusste, Musik eine für alle Menschen zugängliche, sowohl erhebende als auch unterhaltende Kunst zu sein: „Wer vielen nutzen kann, thut besser als wer nur für wenige was schreibet“, war seine innerste Überzeugung.
Wunderkind und Gründervater des Streichquartetts
Zahlreiche Instrumente hatte sich Wunderkind Georg Philipp selbst beigebracht. Fast wäre aus einer Musikerlaufbahn nichts geworden: In typisch mütterlicher Sorge („Kind, mach was Vernünftiges!“) hatte Johanna Maria Telemann dem kleinen vierjährigen Halbwaisen Instrumente und Notenpapier gleich wieder weggenommen – aus Angst, er könne ein mittelloser „Seiltänzer“ oder gar ein „Murmelthierführer“ werden, wie Telemann in seinen überaus vergnüglich zu lesenden autobiographischen Schriften erzählt. Seine musikalische Forscherlust hatte die Mutter jedoch nicht eindämmen können: Schon der junge Komponist hatte ein untrügliches Gespür für die je eigenen Farb- und Ausdrucksqualitäten verschiedener Instrumente. Die innige Vertrautheit mit den Anforderungen und Möglichkeiten eines Instrumentes spricht etwa aus seinem Violakonzert in G-Dur, das erste bekannte, das für dieses bisher nur als klanglicher „Lückenfüller“ agierende Instrument geschrieben wurde. Seine Kombinierfreude an verschiedenen Streicherbesetzungen führte schließlich zur Verbindung zweier Violinen mit Viola und Cello, weshalb Telemann – noch vor Haydn – als Gründervater des Streichquartetts gilt, dieser für die Musikgeschichte so folgenreichen Königsgattung der Kammermusik.
Faszinierende Bläsermusik
Besonders die Blasinstrumente hatten es Telemann angetan. Dem von ihm sehr geschätzten Chalumeau, einem heute wenig bekannten Blasinstrument, verlieh er eine eigene Stimme, indem er mehrere Werke für dieses zart-intime, klarinettenähnliche Instrument schrieb. Er sei ein „Vater und Schöpfer guter Instrumentalduette“, lobte der berühmte Flötenlehrer Friedrichs des Großen und innovative Flötenbauer Johann Joachim Quantz den älteren Komponisten, der die Traversflöte gerne auch mal mit der Blockflöte im Duett wetteifern ließ. Kein anderer Komponist hat auf so vielfältige Weise für Blasinstrumente geschrieben und die klanglichen und spieltechnischen Möglichkeiten in immer neuen Besetzungen und mit hörbarem Vergnügen an klanglichem Glanz, empfindsamem Sentiment und spielfreudig virtuoser Gewandtheit ausgelotet. Mit über fünfzig Bläserkonzerten hat Telemann wesentlich zur Emanzipation und Entwicklung bestimmter Blasinstrumente und Besetzungen beigetragen. Kein Wunder, dass sich Telemanns Name auch mit dem Beginn der „Harmoniemusik“ verbindet, jener ab etwa 1770 Furore machenden Besetzung für Freiluftkonzerte und festliche Tafelmusik:
Über Mozarts Bläserserenaden wie der „Grand Partita“ (Serenade Nr. 10 in B-Dur, KV 361, für zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Bassetthörner, vier Waldhörner, zwei Fagotte und Kontrabass) und die entsprechende Werke Haydns und Beethovens war die Harmoniemusik überaus folgenreich für die Entwicklung der Bläserkammermusik wie des Blasorchesters allgemein. „Gib jedem Instrument, was es leiden kann, so hat der Spieler Lust, du hast Vergnügen dran“, fasste Telemann in gewohnt treffsicherer Formulierung seine Ziele zusammen – und man fragt sich, was Telemann wohl mit dem 1840 von Adolphe Sax erfundenen Saxophon angestellt hätte! Sicher hätte er auch dem Saxophon Werke auf den glänzend gewundenen Leib geschrieben. Dabei hätte er auch wieder auf das geachtet, was ihm „Fundament zur Music in allen Dingen“ war: Das Singen auf dem Instrument und mit der menschlichen Stimme selbst, für die Telemann gleichfalls wundersam schöne Werke geschrieben hat. Lust an einer „geläufigen Gurgel“ (Mozart) verbindet sich mit einer sprachlichen und seelischen Regungen feinnervig nachspürenden Melodik, die Telemann auch für Sängerinnen und Sänger, sei es solo oder im Chor, zu einem absoluten Lieblingskomponisten macht.

Georg Philipp Telemann, „Ich glaube an Jesum Christum“(Articulus secundus de Redemptione). Abschrift (?). Foto: Alamy Stock
Gartenfreund und Avantgardist
Alles um ihn her inspirierte Telemann: Die ihm vielfach vorgeworfene „Vielschreiberei“ war dem neugierigen und vielfach begabten Komponisten schlicht Ausdrucks-,ja, Seinsbedürfnis. Naturerscheinungen wie Erdbeben und Unwetter, Hamburger „Ebb’ und Fluth“, der Tod seines Kanarienvogels, das Quaken der Alster-Frösche (für das er geradezu modern anmutende dissonierende Klänge, Chromatik und kühne Modulationen verwendete) inspirierten ihn ebenso wie die Heilsgeschichte der Bibel, große Werke der Weltliteratur oder die mitreißende Kraft polnischer Volksmusik, die er kühn mit dem französischen und italienischen Stil vermischte. Telemann war stets „up to date“ und bis ins hohe Alter von 86 Jahren mit trotz vieler Schicksalsschläge ungebrochenem Humor, musikalisch kreativ. Mit 3.600 Werken (darunter Opern, Kantaten, mehrere Passionen, Messen und Oratorien) ist er der Schöpfer eines faszinierenden musikalischen Universums, das bis zur Frühklassik reicht. Johann Sebastian Bach hielt große Stücke auf seinen Freund, den er zum Paten seines Sohnes Carl Philipp Emmanuel machte. Sehr zum Unverständnis so manches frühen Biographen hatte Bach (dessen Urteil man dann doch eher hätte vertrauen sollen) noch im hohen Alter Werke von Telemann abgeschrieben – während wiederum Bach zugeschriebene Werke sich als originäre Werke Telemanns entpuppten! Einen „Avantgardisten seiner Zeit“ nennt ihn Wolfgang Rihm – und wirklich war Telemann in vielen Dingen ein Vorreiter und Impulsgeber: 100 Jahre vor Robert Schumann führte er deutsche Vortragsbezeichungen ein, gründete die erste deutsche Musikzeitschrift („Der getreue Musicmeister“), beförderte die Entwicklung der Kantate, des Solokonzerts und des Streichquartetts. Nicht zuletzt war er Gründervater einer bürgerlichen Musikkultur, die bis in unsere Tage wirkt. Sein berühmter Hamburger Garten, belebt auch von Blumengeschenken seines langjährigen Freundes Georg Friedrich Händel, ist leider verloren. Mit jedem seiner Meisterwerke, das wiederentdeckt und aufgeführt wird, erblüht aber sein prachtvoller musikalischer Paradiesgarten wieder aufs Neue.
Dr. Edda Güntert