Dank Internet, Streaming und Bluetooth ist Musik heute überall per Klick verfügbar. Gleichzeitig wird es immer schwieriger, Menschen in die Konzerte zu bekommen. Ist „das Konzert tot“, wie Pierre Boulez schon 1974 postulierte? Oliver Nickel, Dirigent, Musikpädagoge und Präsident der Deutschen Sektion der WASBE kämpft seit vielen Jahren für gute Literatur, hochwertige Musik und spannende Programme. Im Interview führt er auf, wie es gelingen kann, die Blasmusik aus ihrer Nische zu holen, das Genre aufzuwerten und gewinnbringende Konzerte zu gestalten.

blasmusik: Oliver, es ist heute sehr einfach, überall Zugang zu allen Arten von Musik zu bekommen. Wozu sollen die Menschen überhaupt noch ins Konzert gehen?

Nickel: Die Frage ist durchaus berechtigt. In einer Zeit, in der man quasi sofort jede Information bekommen, jede Musik hören kann, schleicht sich eine gewisse Bequemlichkeit ein. Musik wird dann einfach gestreamt. Allerdings kann ein echtes Live-Erlebnis nicht ersetzt werden. Mich hat z. B. immer fasziniert, dass der große rumänische Stardirigent Sergiu Celibidache es abgelehnt hat, Aufnahmen seiner Konzerte zu veröffentlichen: Das Live-Erlebnis, die Akustik im Saal und alle Bedingungen vor Ort sorgen für einen musikalischen Moment, der sich zu Hause nicht nachstellen lässt. Viele von uns haben das schon erlebt, wenn man nach einem Konzert wie beglückt von der Bühne geht und die Aufnahme einen doch eher ernüchtert zurücklässt. Da besteht ein großer Unterschied.

blasmusik: Und doch scheint das Konzept Konzert allgemein nicht mehr besonders reizvoll: Bei den Philharmonischen Orchestern ist das Publikum überaltert und in die Konzerte der Amateurmusik kommen fast ausschließlich Freunde, Familie und Bekannte der Musikerinnen und Musiker.

Nickel: Das sind im Prinzip zwei verschiedene Probleme. Die Überalterung bei den philharmonischen Konzerten würde ich gerne mit zwei Fragen etwas provokanter zuspitzen: Wie soll ein junger Mensch sich für die Oper begeistern, wenn er nie eine gesehen hat? Warum haben wir es in über 100 Jahren nicht geschafft, die Musik von Strawinsky, z. B. Le Sacre du Printemps, zu mögen? Dass diese Fragen nicht aus der Luft gegriffen sind, liegt an der musikalischen Bildung. Leider ist der Stellenwert des Fachs Musik (übrigens auch vieler anderer sog. Nebenfächer, vor allem im künstlerischen Bereich) nicht so hoch, wie er sein müsste. Das andere Problem, nämlich dass wir fast ausschließlich Freunde, Verwandte und Bekannte in unseren Blasmusikkonzerten finden, liegt am Stellenwert der Blasmusik in Deutschland. In einem Land, in dem die klassische Musik mit Komponisten wie Bach, Beethoven oder Wagner und Orchestern wie den Berliner Philharmonikern oder dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks eine international so große Rolle spielt, kann sich eine anders geartete Amateurmusik nur schwer behaupten. Unsere eigene Blasorchestertradition hat auch durch die zwei Weltkriege schwer gelitten. Das trifft auch auf unser Denken zu, denn wenn wir von Tradition sprechen, kommt einem doch eher die böhmisch-mährische Tradition in den Sinn, als die Bearbeitung großer klassischer Werke, was eigentlich unsere musikalische Wiege ist. Zudem ist mein Gefühl, dass wir uns in unserer Ecke auch ganz wohlfühlen. Das beginnt bei den Konzertplakaten, die ja auch so gestaltet sind, dass sich niemand außer Freunden, Verwandten und Bekannten für das Konzert interessieren wird, während das schlechteste Amateur-Sinfonieorchester Deutschlands sicher auch die gespielten Werke in den Vordergrund rücken wird. Die Abgrenzung zur ernsten klassischen Musik führen wir aber auch selber fort, indem wir unseren eigenen Anspruch klein halten, um uns nicht rechtfertigen zu müssen. Statt qualitativ hochwertige Musik zu machen, geht es manchen Kolleginnen und Kollegen darum, möglichst schwere Werke mit zweifelhaftem Ergebnis aufzuführen, nur um dies nachher im Portfolio zu haben. Ich finde das den falschen Ansatz und die falsche Art und Weise „groß“ zu denken. So bleibt die Blasmusik für sich selbst im nationalen Umfeld abgeschottet.

blasmusik: Wie lässt sich dieses geschlossene System aufbrechen? Und wie kann es gelingen, Konzerte wieder für eine breitere Zielgruppe attraktiv zu machen?

Nickel: Ein Punkt muss sein, die Werke und die Komponisten in den Fokus des Konzerts zu stellen. Sind die Blasmusikkomponisten nicht bekannt, haben wir sie nicht bekannt gemacht. Es liegt in der Tat an uns, hier auch dem kulturellen Auftrag, den jedes Ensemble hat, gerecht zu werden. Ein anderer Punkt kann sein, Musik mit anderen Künsten zu kombinieren. Die Idee ist nicht neu, sondern stammt im Wesen von Richard Wagner, der mit seinem „Gesamtkunstwerk“ alle Künste zusammenführt, um ein größeres Ganzes zu schaffen. Auf diese Art und Weise kann ich das System „Blasmusik“ öffnen, sowohl für die eigenen Musikerinnen und Musiker als auch für die „Außenwelt“.

blasmusik: Also, Interdisziplinarität als Lösung?

Nickel: Genau. Die Verbindung von Musik mit anderen Künsten kann dabei sehr gewinnbringend für die Ausführenden als auch für das Publikum sein. Dabei können es Stücke sein, die von der Idee schon interdisziplinär gedacht sind, oder Werke, bei denen man durch eigene kreative Ideen weitere Künste hinzufügt.
Das Hinzugefügte kann dann eine andere Kunstform, wie Tanz oder Schauspiel, oder auch eine andere musikalische Gattung sein, sodass das „System Blasmusik“ erweitert wird.

blasmusik: Kannst Du Beispiele für die beiden Formen interdisziplinärer Stücke nennen, die das veranschaulichen?

Nickel: Ein wunderbares Beispiel sind Märchen- oder Theateraufführungen. Das ist jetzt auch keine neue Erfindung, sondern in vielen Orchestern auch schon gemacht worden. Die Verbindung von Musik und Schauspiel und vielleicht sogar Gesang führt oft zu großartigen Aufführungen. Hier lassen sich auch verschiedene Gruppen innerhalb des Musikvereins einbinden, was auch ein wunderbarer Nebeneffekt ist. Es gibt auch wunderbare originale Werke für Blasorchester, z. B. „Es war einmal…“ von Jan Van der Roost oder „Des Kaisers neue Kleider“ von Ed de Boer. Manchmal braucht es einfach etwas Mut hier „groß“ zu denken, aber es lohnt sich. Viele Blasorchesterwerke, die nicht interdisziplinär gedacht sind, bieten sich für eine Verbindung mit anderen Künsten an. Zum Beispiel ließe sich zu Johan de Meijs „Aquarium“ wunderbar eine Ausstellung realisieren, die die im Stück porträtierten Fische zum Thema hat. In der Ausstellung könnten auch Bilder der vereinseigenen Bläserklasse zu finden sein, die das Stück in einer Probe gehört haben. Die sinfonischen Tänze aus der West Side Story lassen sich wunderbar durch eine Jazz-Combo mit einem Tony und einer Maria ergänzen, die innerhalb des Stückes an passender Stelle einige der Songs zum Besten geben. Auf einer Leinwand projizierte Bilder können das Publikum durch programmatische Werke, wie Serge Lancens „Le chant de’larbre“ (der Gesang des Baums) führen. Das sind jetzt nur ein paar Ideen …

blasmusik: Was gilt es bei interdisziplinären Projekten zu beachten?

Nickel: Richard Wagner hat schon in seinen Überlegungen vom Primat der Musik gesprochen. Wir, die Initiatoren des Projekts, machen dies schließlich aus musikalischen Gründen. Sollten wir etwas hinzufügen, dann muss die Musik dadurch verstärkt werden, es soll nicht davon ablenken. Wenn ich während meiner programmatischen Musik so viele Bilder zeige, dass das Publikum nur noch auf die Bilder achtet, was bleibt dann noch? Im Idealfall ist das Ergebnis mehr als die Summe seiner Einzelteile. Das bedeutet aber auch viel Arbeit und viel Vorüberlegung im Vorfeld und dies meist für die Dirigentin, bzw. den Dirigenten.

blasmusik: Ist unsere Musik, die Blasmusik, stark genug, um als wesentlicher Teil interdisziplinärer Projekte wunderbare Gesamtkunstwerke und unvergessliche Konzerterlebnisse zu schaffen?

Nickel: Absolut! Die Kunstform Blasorchester muss sich nicht hinter dem Sinfonieorchester verstecken. Viele große Komponisten haben den Farbenreichtum des Blasorchesters zu schätzen gewusst oder tun es heute. Dass die Umsetzung interdisziplinärer Projekte vorangetrieben wird, sieht man auch am WMC (World Music Contest) in Kerkrade. Seit einiger Zeit gibt es in der Konzertdivision (höchste Abteilung) kein Pflichtstück mehr, aber es wird die Umsetzung eines künstlerischen interdisziplinären Gesamtkonzepts verlangt. Das ist unwahrscheinlich spannend, wenn man sich ansieht, was die Spitzenorchester hier auf die Bühne bringen.
blasmusik: Dann können interdisziplinäre Konzertprojekte und -programme auch dazu beitragen, die Bedeutung der Blasmusik zu steigern und sie aus der Ecke zu holen?

Nickel: Für Deutschland sehe ich es als besonders wichtig an. Wir müssen uns mehr lösen von der Uniformität der Konzertprogramme und hier erfordert es mehr Mut der Verantwortlichen, als wir uns momentan zugestehen. Ich persönlich finde es ermüdend, auf einem Festbesuch von jedem Orchester das gleiche Stück zu hören, auch wenn eine Zeitstunde dazwischen liegt. Die Diversität, die das Medium Blasorchester bietet, muss viel mehr ausgereizt werden. Und hier können interdisziplinäre Projekte helfen. Dabei meine ich nicht, dass es noch mehr sinfonische Pop-/Rock-Konzerte mit Blasmusik geben muss, sondern das kreative Ideen die großartigen Qualitäten des Mediums Blasorchester über die eigenen Grenzen hinaustragen.