Überraschende, über Epochen und Musikgenres hinwegwirkende Verbindungen zwischen nur scheinbar unvereinbaren Komponistinnen und Komponisten, Popstars und Jazz-Ikonen aufdecken: Das ist eines der Ziele der Komponisten-Wand im Foyer der Musikakademie. Warum die weltberühmten Songs von ABBA nicht ohne die revolutionären musikalischen Werke von Claudio Monteverdi, dem Ur-Vater der Oper, vorstellbar sind, erklärt Edda Güntert in zwei weiteren Beiträgen zur Reihe „Komponistinnen und Komponisten in der BDB-Musikakademie“.
Claudio Monteverdi (1567–1643) Hohelied der Schöpfung
Sein „Orfeo“ begründet die Geschichte der Oper: Monteverdis Musik ist die eines neugierigen, experimentierfreudigen Künstlers, sie durchwandert die Bedeutungstiefen dichterischer Texte und lässt in Wort und Ton Menschen lebendig werden. Leidenschaft kennt keine Regeln – seine „regellosen“ Vertonungen feiern geistige und körperliche Schönheit und eröffnen aufregende Klang- und Ausdruckswelten, die weit über seine Zeit hinausweisen und nicht nur im „walking bass“ des Jazz ihre Spuren hinterlassen …
In einem der schönsten ABBA-Songs, „Thank you for the music“, singt Agnetha: „Who found out, that nothing can capture a heart/Like a melody can? Well, whoever it was, I’m a fan.“ Die Musik selbst hat Claudio Monteverdi natürlich nicht erfunden – obwohl man es, lauscht man seinen Klängen, gerne glauben möchte. Genau genommen hat er auch die Oper nicht erfunden, wie es immer wieder zu lesen ist. Sein Name ist dennoch zu Recht mit der Entstehung der Oper und der Emanzipation der Melodie fest verbunden: Monteverdis „Orfeo“ (1607) verdichtet und übertrifft die sprachlich-musikalischen Ideen der eigentlichen Opern-Erfinder Jacopo Peri und Giulio Caccini, die im intellektuellen Club der „Florentiner Camerata“ den Sologesang der antiken Tragödie (oder was sie eben dafür hielten) wiederbeleben wollten, in überragender Weise. Seine musikalische Gestaltung der Geschichte um den mythischen Sänger, der mit seinem Gesang Menschenherzen bewegt, wilde Tiere zähmt und selbst die Unterwelt bezwingt, gilt als Gründungsurkunde des modernen Musiktheaters. „Fans“ von Monteverdi müssten die vier von ABBA allein wegen seiner betörend schönen Melodien sein: Der 1567 in Cremona geborene, am fürstlichen Hof der Gonzaga in Mantua wirkende Monteverdi teilte Bennys und Björns Überzeugung, dass es vor allem die Kraft der Melodie ist, die das Herz bewegt und das Menschliche in all seinen Facetten zum Ausdruck bringen kann. Würde Monteverdi heute leben, wäre er wohl einer der gefragtesten Film- und Werbemusik-Komponisten: Die majestätisch auftrumpfende Fanfare, die er als Auftrittsmusik für seine adligen Dienstherren geschrieben hat und die auch den „Orfeo“ und die sakrale „Marienvesper“ eröffnet, hat nach fast 400 Jahren nichts von ihrer packenden Kraft verloren. Damit ist diese Fanfare eines der ersten erfolgreichen Jingles der Musikgeschichte!
Das Menschliche in der Kunst – in einer Zeit des Umbruchs
Das Menschliche in der Kunst interessierte den vielbeschäftigten Hof- und Kirchenmusiker Monteverdi ganz besonders. Zu seiner Zeit musste dieses Thema jedoch erst einmal als „kunstwürdig“ überhaupt in den Fokus rücken. Kunst und Musik hatten vor allem um Gott und seine Schöpfung zu kreisen. In der Perfektion mehrstimmiger Satzkunst (etwa in der Motette, der vokalen Hauptgattung der Zeit) und in strengen Kompositionsregeln spiegelte sich die Ordnung der göttlichen Schöpfung („Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.“ Weisheit 11,20). Das menschliche Herz jedoch kennt weder Maß noch Regeln: Liebe, Schicksal und Tod können alles noch so Wohlgeordnete zum Einsturz bringen, zugleich aber auch etwas Neues hervorbringen – genau davon war Monteverdi fasziniert. In seiner Offenheit gegenüber neuen Ideen war er ganz Kind der Umbruchszeit zwischen Renaissance und Barock: Mit der Landung Kolumbus’ in Amerika 1492, der kopernikanischen Wende und den revolutionären Erkenntnissen Johannes Keplers und Galileo Galileis (dessen Vater Vincenzo – Lautenist, Musiktheoretiker und Mitglied der „Florentiner Camerata“ – Monteverdi übrigens gut kannte) brach die Neuzeit an. In der Kunst brachte sie revolutionäre Geister wie Gian Lorenzo Bernini oder Caravaggio hervor, die wie Monteverdi die Spannung zwischen Irdischem und Göttlichem künstlerisch gestalteten.
Im Laboratorium der Musik – Integration von Tradition und Moderne
Der neugierige Hobby-Alchimist Monteverdi, der mit allerlei hochentzündlichen Stoffen hantierte, begann auch im Laboratorium der Klänge zu experimentieren. Der „musikalische Dr. Faust“ lässt es ordentlich krachen: Vor allem in seinen Madrigalen – eine Gattung, die gegenüber der Motette schon früher mehr schöpferische Freiheiten zuließ und um das Thema Liebe kreist – lässt Monteverdi z. B. Dissonanzen frei eintreten: Sie werden nicht stimmführungstechnisch regelkonform vorbereitet, sondern treten direkt und schneidend in den Satz ein, was für die damaligen Hörer ein ungeheures Hörerlebnis gewesen sein dürfte. Dabei lässt er sich von Texten berühmter Dichter wie Torquato Tasso und Francesco Petrarca inspirieren, in denen das Leiden an unerfüllter Liebe in scharf kontrastierenden Bildern und sog. Oxymora („traurigfroh“, „bittersüß“) erscheint: Die Dichtung steht im Mittelpunkt, die Musik gestaltet und intensiviert die Affekte (Leidenschaften), die die Worte auslösen. In unsanglichen – deshalb auch unerlaubten – Intervallsprüngen lässt Monteverdi die Menschen jauchzen und aufschreien. Quälend chromatische Aufwärts- oder Abwärtslinien (der berühmte sog. „passus duriusculus“, der „etwas schwere Gang“, der noch bei Bach und weit darüber hinaus als Zeichen für Leiden wirkt) versinnlichen die Qualen der Liebe. In Generalpausen stockt der Atem oder wird gar der Tod selbst spürbar. Inspiriert von der dichterischen Sprache gewinnt die Musik selbst eine Ausdruckskraft, die verstehen lässt, warum Monteverdis Zuhörer (vor allem die weiblichen) bei seiner Musik weinten, wie er selbst nicht ohne Stolz in einem Brief vermerkte. Soviel „modernes Zeugs“ rief aber auch Gegner auf den Plan, so etwa den strengen Musikgelehrten Giovanni Artusi, der diese Musik als einzigen Angriff auf geltende Autoritäten sah. Dabei hatte Monteverdi selbst gar nicht vor, den „alten Stil“ (stile antico) über den Haufen zu werfen – im Gegenteil. Der „prima pratica“ der alten Meister wollte er seine, wie er es nannte, „seconda pratica“ an die Seite stellen, also eine moderne Musik, die den modernen Menschen und seine Gefühlswelt, ausgedrückt in den hervorragendsten Dichtungen der Zeit, angemessen zu gestalten weiß. Dass er sich selbst durchaus als Meister in beiden Disziplinen verstand, beweist seine „Bewerbungsmappe“ um ein musikalisches Amt in Rom: Papst Paul V. widmete er zum einen seine a cappella-Messe „In illo tempore“, die ihrer satztechnischen Vollendung und ätherischen Transparenz an Palestrina erinnert. Mit der einzigartigen „Marienvesper“ hingegen befand sich zudem ein Werk im Paket, das direkt aus Monteverdis „Labor“ hervorgegangen zu sein schien: In einer heute noch Staunen machenden intensiven Kraft setzt die Musik alle zur Verfügung stehenden Klang- und Ausdrucksmittel ein, um die Schöpfung in ihrer ganzen Herrlichkeit zu feiern. Vollstimmig chorische Hymnen auf die Gottesmutter vereinen sich mit intimeren, die erotischen Gesänge des salomonisches „Hoheliedes“ klangsinnlich nachzeichnenden „Concerti“: Soli und Duette mit instrumentaler Begleitung machen in liedhaften Melodien die Einheit von Geist und Körper, Andacht und Extase unmittelbar erfahrbar. „Hot stuff“, der im päpstlichen Rom vielleicht zu heiß war – im liberalen Venedig wiederum war der Freigeist Monteverdi gern gesehen, wo er von 1613 bis zu seinem Tod im Jahr 1643 als hochangesehener Kantor des berühmten Doms zu San Marco wirkte. In Venedig entstanden bahnbrechende letzte Werke: Seine Oper „L’incoronazione di Poppea“ (Die Krönung der Poppea, uraufgeführt 1643) ist bis heute ein echter „sex and crime“-Kassenschlager. Sie war eine der ersten Opern, die an einem öffentlich bürgerlichen, nicht adeligen Haus gespielt wurden – ein hochinnovatives, für die Entwicklung der Oper wegweisendes Werk des Priesters Monteverdi (die geistlichen Weihen hatte er nach familiären Schicksalsschlägen empfangen), der noch als über 70jähriger die körperliche Liebe in unverminderter Leidenschaft musikalisch feiert.
Monteverdis Erbe – die Kraft der Musik
Einer solch gewaltigen Musik konnte schließlich auch der gestrenge Herr Artusi nicht widerstehen. Ein weiterer „Fan“ also – wie Nadia Boulanger, die als eine der ersten Spezialistinnen für Alte Musik Werke Monteverdis aufnahm und zu seiner Wiederentdeckung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wesentlich beitrug. Auch Paul Hindemith war ein Monteverdi-Fan: Seine frühe „Orfeo“-Inszenierung (1954) wirkte auf einen jungen, im Orchester mitspielenden Cellisten namens Nikolaus Harnoncourt „wie ein Blitzschlag“ – Harnoncourt wiederum sollte einer der wichtigsten Monteverdi-Interpreten des 20. Jahrhunderts werden. Monteverdi-Fans sind auch die vielen Jazzer, die seinen „walking bass“, mit dem er Orpheus durch die Tiefen der Unterwelt und der menschlichen Psyche wandern lässt, bis heute aufgreifen. In vielen Jazz-Standards, Pop- und Rock-Songs („Hotel California“ von den Eagles) hat auch der sog. „Lamento“-Bass, eine absteigende Tonfolge im Raum einer Quarte – eine zentrale Formel für Leid und Schmerz, die über Schütz, Purcell und Bach bis in unsere Zeit musikalisch wirkt – eine tragende Rolle. Auch hierin war der „göttliche Claudio“ revolutionär: Im Verein mit der Melodiestimme, die aus dem Verband gleichberechtigter Stimmen (Polyphonie) hervortritt und sich als Solo-Stimme emanzipiert, wird der Bass zum Fundament eines nicht mehr linearen, sondern vertikal akkordischen Denkens („basso continuo“) in der Begleitung. Noch in Jean-Philippe Rameaus „basse fondamentale“ klingt das Schaffen Monteverdis nach und weit in die Harmonielehre hinein. Ohne Monteverdi hätten sich also weder Oper noch Lied oder Popsong, weder Sonate noch Solo-Konzert in der Weise entwickelt, wie wir es heute gewohnt sind. Vor allem aber bekommt die Musik mit Monteverdi ein pochendes, menschliches Herz: Sie erzählt von den bleibenden großen Geschichten des Lebens und klingt auch deshalb noch nach 400 Jahren unvermindert intensiv, wie z. B. Paolo Fresùs melancholische Interpretation der Liebesklage „Si dolce è il tormento“ eindrucksvoll belegt. Wie heißt es bei ABBA? „But I have a talent, a wonderful thing/’Cause everyone listens when I start to sing“. Das war auch das große Talent von Maestro Claudio, der im „Orfeo“ die Musik selbst singen lässt: „Ich bin die Musik, die in süßen Tönen jedem aufgewühlten Herz Frieden schenken/Und mit edlem Zorn wie mit Liebe noch die kältesten Seelen in Flammen setzen kann.“ So we say: Thank you for the music, grazie per la musica, divino – oder besser: humano Claudio.
ABBA Welthits aus der Drachenhöhle
Unter #Abba versammeln sie Milliarden Views, als „Abbatare“ schreiben sie die Zukunft des Musikentertainments mit: Seit 1972 wirkt die Strahlkraft des schwedischen Pop- und Musical-Phänomens, das mit zwei grandiosen Frauenstimmen und einem kongenialen Songwriter-Duo Lady Gaga und die Foo Fighters inspirierte und es in die „Rock and Roll Hall of Fame“ geschafft hat. Das Geheimnis? Eine „perfect melody“, die legendäre „wall of sound“, Liebe zur schwedischen Volksmusik und zu zeitlos guter Musik der anderen großen B’s: Beatles und Bach – aus dem Klassikkenner Benny schon mal den alten Schweden rausholt …
Am 6. April 1974 tritt der Drache zum ersten Mal aus seiner Höhle. Mit „Waterloo“ gewinnt ABBA als erste schwedische Band den Eurovision Song Contest. Im Sturm erobert das Quartett den Pop-Olymp: Mit schrillen Klamotten, unfallträchtig hohen Plateauschuhen, Björns legendärer Stern-Gitarre und einem Song, der mit seiner unkonventionellen Energie die den Grandprix bisher dominierenden schwerblütig-melodramatischen Balladen einfach wegfegt. Selbst schärfste Kritiker – denn unumstritten war ABBA nie, vor allem nicht in ihrer Heimat Schweden, wo der Gruppe von der linken Progg-Bewegung „Kommerzialisierung von Musik“ vorgeworfen wurde – erliegen letztlich doch der Verführungskraft einer so zuvor nie gehörten Pop-Musik. ABBA: Das sind über 350 Millionen verkaufte Tonträger, das ist ein kaum überschaubares Netz von Einflüssen in die Pop- und Disco-Musik über Erasure, Madonna, Roxette und Avicii bis hin zu Lady Gaga und Taylor Swift. Ein milliardenschweres Imperium mit Musicals, Filmen, Merchandising und einem eigenen Museum in Stockholm. Ein Phänomen: Schillernd zwischen Glamour und Kitsch, gehasst und geliebt (vor allem von der LGBTQ Community), fesselnd, aber kaum fassbar. Eine Erscheinung der 70er- und 80er-Jahre – und doch zeitlos. Mit der virtuellen Avatar- oder besser: Abbatar-Show „Voyage“ in London, der im Jahr 2021 nach fast 40 Jahren die lang ersehnte Wiedervereinigung für das gleichnamige Album voranging, ist das Quartett, das nur zehn Jahre (ca. 1972–1982) aktiv wirkte, auf dem Weg in die Unsterblichkeit.
Der Kampf mit dem Drachen um den perfekten Song
Benny Andersson spricht gerne vom „Drachen“ und vom „Warten vor der Drachenhöhle“, wenn es um Inspiration, um das Ringen um einen wirklich großen Song geht. Ein starkes, zugleich ambivalentes Bild: Schöpferische und zerstörerische Kraft, Licht- und Schattenseiten künstlerischer Existenz sind eng miteinander verbunden. Genau davon konnte ABBA mehr als ein Lied singen – der tiefgründige Text von „Super Trooper“ („wishing every show was the last show“) ist nur ein Beispiel dafür. Viel von den verehrten Beatles steckt in dem frühen Song „Ring ring“: In seinem Gute-Laune-Drive und dem lautmalerischen Ohrwurm-Refrain ließ dieser Song bereits erahnen, dass mit diesem Quartett zu rechnen war. 1973 war der Song beim schwedischen Vorentscheid zum Grandprix noch durchgefallen. Auch beim Bandnamen hatte man sich noch nicht einigen können. Beim „Eurovision Song Contest“ 1974 in Brighton jedoch wurde aus dem schwedischen Quartett Agnetha Fältskog, Björn Ulvaeus, Benny Andersson und Anni-Frid „Frida“ Lyngstad, bestehend aus zwei Ehepaaren, vor allem aber aus höchst erfahrenen, in verschiedensten Genres beheimateten Musikern und Sängerinnen quasi über Nacht das Phänomen ABBA. Anfangs belächelt wegen der Namensgleichheit mit einem Fischkonservenhersteller, wurde dieser Name zu einer der wohl machtvollsten Marken im Musikbusiness (was sich auch für den Konservenfabrikanten auszahlte).
Magische Frauenstimmen und kongeniales Wort-Musik-Verhältnis
ABBA – das sind vor allem diese Frauenstimmen: Der warm timbrierte Mezzo Anni-Frids, geschult durch Operngesang und Jazz – dazu der helle, über ein silbrig strahlendes, tragfähiges Vibrato verfügende Sopran Agnethas, der jede Melodie zum Ereignis machte. Ob als Solo, im Duett oder in diesem typisch kristallinen Chorklang (z. B. „Super Trooper“, die Chor-Einwürfe in „Does your mother know“), der durch die berühmte „Wall of Sound“ (die Stimmen werden mehrfach aufgenommen und übereinander geschichtet) zustande kam: Mit der Entscheidung, den beiden Frauen die Lead Vocals anzuvertrauen, ging es für ABBA sprunghaft nach vorne. Die beiden Männer wiederum waren schon früh mit ihren jeweiligen Bands, den „Hep Stars“ (Benny), den „schwedischen Beatles“, und den „Hootenanny Singers“ (Björn) erfolgreich gewesen. Der wilde Mix aus Klassik, Oper und Operette, Jazz, Schlagern, Pop und vor allem Volksmusik, mit dem beide groß geworden waren, begründete die ungeheure Vielseitigkeit des kongenialen Duos. Man kann durchaus von Instrumentierungskunst sprechen: So prägt viele Songs ein dichter, in unabhängigen Stimmen und reizvollen klanglichen Elementen (z. B. die orientalisch anmutende Keyboard-Linie in „Summer Nights City“) zugleich transparenter Satz, der von bestimmten Sound-Effekten und den Klangfarben bestimmter Instrumente lebt. Wie zum Beispiel in „The Piper“ die Flöte, dieses Instrument mit uralter Geschichte, bei den lateinischen Versen „Sub luna saltamus“ gemeinsam mit Marsch-Trommeln, renaissanceartigen Tänzen und dem geheimnisvollen Chor die Verführungskraft eines „Rattenfängers“ zeichnet, ist einfach magisch. Nicht aus dem Kopf geht auch auch das choralartige „Lay all your love on me“ oder die legendäre rollende Hookline von „Gimme gimme gimme“, die in Madonnas Hit „Hung up“ ein zweites Leben erhielt: Trotz Synth-Effekt verrät diese Linie in ihrer archaischen Tonfolge, wie sehr vor allem der begnadete Akkordeonist und Bach-Verehrer Benny die Alte Musik liebt – und vor allem die nordische Volks- und Tanzmusik, ohne die ABBAs Musik nicht vorstellbar ist. Hinzu kommt das feine Text-Musik-Gespür von Björn, der genau weiß, mit welchen sprachlichen Bildern und Klängen Gefühle und Bilder im Kopf entstehen – und welche Refrains zu welchen Rhythmen derart in den Körper fahren, dass man einfach nur eines will: Tanzen! Mag sein, dass es auch weniger tiefgründige Texte im Repertoire gibt. Aber wer schon mal aus vollem Hals „Waterloo“ oder „Gimme Gimme Gimme“ geschmettert hat oder Worte wie „Chiquitita“ oder „Voulez-vous“ über die Zunge gleiten lässt, hört und spürt, dass auch Wortklang und -rhythmus einen Hit zu einem Hit machen. Und das Gehör war und ist bei ABBA zentral, denn beide Männer haben immer wieder betont, dass sie Noten weder lesen noch schreiben können…
Kleine große Songs über das Leben und die Liebe
Das alles bildet die „Essenz“ (Björn Ulvaeus), um die sie mit Gitarre und Klavier in der legendären Hütte auf der Insel Viggsö oft bis tief in die Nacht rangen. Das Scheitern beider Ehen, der Druck einer öffentlichen Künstlerexistenz (hier zeigte sich vor allem bei der sensiblen Agnetha die vernichtende Kraft des Drachen), Anni-Frids Lebensgeschichte als Kind eines Wehrmachtssoldaten, das sich mit norwegischen und schwedischen Volksliedern tröstete – der melancholische Ton vieler Songs (Benny verweist gerne auf die Musik Edvard Griegs und Jean Sibelius’) zeugt von all diesen Geschichten. Wer z. B. „The winner takes it all“ hört, spürt, dass sich ABBA mit der uralten Geschichte von verlorener Liebe in einer Musiksprache bewegt, wie sie immer auch schon große klassische Werke prägte: Wie nach der ermattend absinkenden, an romantische Klavierlieder erinnernden Piano-Einleitung, die in ihren Grundtönen schon den Refrain vorwegnimmt, die einsame Stimme Agnethas einsetzt („I don’t wanna talk“) und dann sich die erst resignativ kleinschrittige, wie fragend kreisende Melodik im Refrain durch die wohl leidenschaftlichsten forte-Septimausbrüche der Popmusik („The winner takes it all“ – „Beside the victory“) weitet – das ist zutiefst bewegend. Eine Liebesklage, wie sie im sensiblen Reagieren der Musik auf den Text in der Tradition barocker und romantischer Musik etwa eines Purcell, Monteverdi oder Schumann steht. Gerade bei den Versen „But tell me, does she kiss/Like I used to kiss you“ hört man eine in den zupackenden Akkordtürmen geradezu an Tschaikowsky erinnernde Klavierbegleitung – und wer muss nicht schlucken, wenn nach den Versen „And I understand/You’ ve come to shake my hand“ (hier dünnt Benny den Begleitsatz aus, wie um die Endgültigkeit dieser Verse noch zu betonen) die Worte durch eine wehmütige Streicher-Geste in der Begleitung versinnlicht werden. „Aus meinen großen Schmerzen mach’ ich die kleinen Lieder“ heißt es bei Heinrich Heine – und auch das ist wohl eines der vielen Erfolgsgeheimnisse von ABBA: Kleine große Lieder über das Leben und seine zeitlosen Themen zu schreiben. Lieder, die auf der ganzen Welt über alle Zeiten und Generationen hinweg verstanden und geliebt werden. Große Musik. Der Drache lebt.
Dr. Edda Güntert