Mehr noch als ihrer beider Geburtstage in diesem Jahr – Maurice Ravel wird 150, Johann Strauss (Sohn) 200 Jahre – verbindet die beiden scheinbar so weit voneinander entfernten Komponisten die Liebe zum Walzer. Wie aus dem einst bäuerlichen, „unsittlichen“ Tanz in der Musik des „Walzerkönigs“ das glanzvolle Markenzeichen Wiens und ein globales Musikphänomen wurde, das Ravel in seinem berühmt-berüchtigten „La Valse“ als Fanal der Krisen des 20. Jahrhunderts inszeniert, das beleuchtet Dr. Edda Güntert in einem neuen Beitrag zu „Komponistinnen & Komponisten in der BDB-Musikakademie“.

Maurice Ravel (1875–1937) Liebhaber im Uhrenkasten

Unzählige Namen hat man ihm gegeben: „Uhrmacher“, „Apache“, „Verrückter“, „Seltener Vogel“ … und doch: Wer er wirklich war, wusste Ravel mit dem gleichen raffiniert-eleganten Kalkül zu verstecken, mit dem der Magier der Instrumentation mit den Farben des Klaviers und des Orchesters zu zaubern wusste. Auf den verschlungenen Seitenpfaden neben seinem „Bolero“ – der „keine Musik enthält“ (O-Ton Ravel) – hat man am ehesten die Chance, eine seiner unzähligen schillernden Facetten zu erhaschen. Aber Vorsicht: Auch das könnte wieder eine Maske sein – vielleicht auch nicht …

Wie nähert man sich einem Komponisten, der nichts so sehr fürchtete wie Nähe? Der sich als Mitglied des elitär-rebellischen Pariser Künstlerclubs der „Apachen“ hinter dandyhaftem Raffinement, geistreichem Witz und ironischer Distanz verbarg – und nur Kindern sein Wesen frei offenbarte. Nahezu nichts ist von seinem Privatleben bekannt: „Meine einzige Geliebte ist die Musik“, soll Ravel gesagt haben, der sich jedem Porträtversuch in Text und Bild (Spitzname: „Malers Verzweiflung“) entzog und dessen zarte Gestalt erst auf Fotografien annähernd gebannt werden konnte. Dass er auch seine „Autobiographie“ – für andere Forum redseligen Ich-Kults – bewusst nur in nüchtern skizzierten Fragmenten hinterließ, passt sehr gut in dieses Bild. Ravel schätzte die leise Andeutung, den schillernden Zauber der Ambivalenz: Sein Werk ist dem Fächer vergleichbar, durch den in Goethes Gedicht „Wink“ die Augen der Geliebten als Sinnbild für das Allerhöchste hindurch-funkeln. Der Fächer: Was für ein passendes Bild für den Halb-Spanier Ravel, der die Klanglandschaften der Heimat seiner baskischen Mutter in hinreißende Seguidillas und Habaneras fasste, die selbst Manuel de Falla in Staunen versetzten. Der Fächer gibt nie alles preis – und schenkt gerade deswegen „Augen-Blicke“ von größter Intensität. Wer jetzt den atemberaubenden, in den Körper förmlich hineinfahrenden Sprung nach dem minutenlang hypnotisch umkreisten C-Dur nach E-Dur im „Bolero“ innerlich hört, den gleißenden Durchbruch des Sonnenlichtes in „Daphnis et Chloé“ oder sich an den ekstatisch berstenden Höhepunkt in „La Valse“ erinnert – der versteht, was gemeint ist.

Das Paradies der Kindheit

Ob das Wort von der Musik als „einziger Geliebter“ authentisch ist? Sentimentaler Überschwang war eigentlich nicht Ravels Sache. Die Dichterin Colette, die die Texte zu seinem Schlüsselwerk „L’enfant et les sortilèges“ (Das Kind und die Zauberdinge, Kammeroper, 1924/1925) geschaffen hatte, war von der Schönheit seiner Musik zu ihren Worten so ergriffen, dass sie den Tränen nahe war. Ravels – scheinbar – oberflächliche Reaktion: „Nicht wahr, es ist amüsant.“ Auf das Entsetzen jener legendären Zuhörerin wiederum, die ihn nach der skandalträchtigen Uraufführung des „Bolero“ 1928 als „Verrückten“ titulierte, soll er mit der für ihn typischen Ironie reagiert haben: „Elle a compris (Sie hat’s verstanden).“ Diese distanzierende Ironie ist wohl der Grund dafür, dass Ravel von Zeitgenossen als zu rational und seine Musik als allzu perfekt „durchgetaktet“ beschrieben wurde. Wie das Ganze aber mit seinem raffinierten Spiel mit dem eindeutig Zweideutigen und mit der subtilen Erotik seiner Werke zusammenhängt, lässt sich klären, wenn man sich auf sein Spiel mit dem Fächer einlässt: Er bietet Schutz – und je perfekter die Fassade (Ravel war ein Perfektionist und stets auf ein makelloses Äußeres bedacht), desto verletzlicher das, was sich dahinter verbirgt. In der bunten Kuriositäten-,Automaten- und Spielzeugsammlung seines Hauses in Montfort-L’Amaury wird sichtbar, was das „erwachsene Kind“ Ravel bewegte und was er in den vielen um kindliche Themen kreisenden Kompositionen in Klang hob. „Das Kind und die Zauberdinge“ ist ein spätes Selbstbildnis Ravels, der Tiere, Natur und Märchen liebte, aber auch alles, was mit Technik und Kunsthandwerk zu tun hatte: Das Werk ist ein die ganze Klangmagie seiner Musik – fernöstliche Klänge, barocke Tänze, Bläser-Grotesken mit Bassklarinette und Fagott, Jazz-Motive – in Ballett, Chor- und Sologesang entfaltende „Fantasie lyrique“, die Menschlichstes so humorvoll wie bewegend in Töne fasst. Kein Wunder, dass Colette in Tränen ausbrach: Wer die berückend schöne Chormusik zu der Szene hört, in der das verletzte „Eichhörnchen“ (ein weiterer Spitzname von Ravel!) von dem einst in unreifem Trotz alles zerschlagenden Kind gerettet wird, der spürt, dass es Ravel um die Versöhnung von Mensch und Natur – und um nichts weniger als die Rettung eines inneren kindlichen Paradieses ging, aus dem man auch als Erwachsener nicht vertrieben werden konnte. Seine klangfarbensinnliche Behandlung der menschlichen Singstimme, von der auch seine vielen Lieder zeugen, weisen ihn – Robert Schumann ganz ähnlich – als sprachverliebten Tondichter aus, der viele seiner Werke als „Poème“ betitelte und sich vor jeder Vertonung genau in den Text vertiefte. „Kinderszenen“ stellen auch die fantastischen Märchenbilder seines Zyklus für zwei Klaviere „Ma mère l’Oye“ (Meine Mutter die Gans, 1908–1910) dar, in denen Ravel Märchen des französischen Barock erzählt: Mit archaischen und fernöstlichen Klangwelten (Pentatonik, modale Skalen), subtiler Kontrapunktik und schillernd differenzierter Harmonik, die er in seiner späteren Orchestrierung in unnachahmlicher Weise der Farbpalette von Streichern und Bläsern anverwandelt (meisterhaft wie seine berühmte Orchestrierung von Modest Mussorgskys Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“), entfaltet Ravel eine Wunderwelt, die in einem fragilen Gleichgewicht von kindlicher Hingabe und „erwachsener“ Präzision, zwischen Emotion und Raison schwebt.

Im Rausch der Motorik: Barock und Jazz

Darin dürfte ein weiterer Schlüssel zum „Rätsel Ravel“ liegen: Kind und Erwachsener, glühendes Herz und kühler Kopf, ungezähmte Natur und gestaltende Kunst sind bei Ravel keine Gegensätze. Genau so ist auch sein ambivalenter Satz „Je suis artificiel par nature“ („Ich bin von Natur aus künstlich“) zu verstehen: Das „Raffinement“ (im Sinne von Ver-Feinerung), mit dem Ravel beim Komponieren vorgeht und mit dem er mit subtilsten Nuancen ergreifende Wirkung erzielt, ist nicht nur Ergebnis von Kalkül, sondern der gleiche „kühle Rausch“, von dem der Dirigent und Komponist Pierre Boulez, einer seiner wichtigsten Interpreten, spricht. Ravel ist tatsächlich – wie so oft von Zeitgenossen bemerkt – ein „Kind“ des französischen 18. Jahrhunderts mit seiner anspielungsreichen Sinnlichkeit voller „Esprit“, für den Erotik kein plumpes Begehren, sondern Teil eines intelligenten Spiels ist (Cyrano de Bergerac lässt grüßen!). Der barocke Gott ist der „Deus horloger“, der seine Schöpfung als Uhrmacher in Bewegung setzt: Die Vielfalt der Natur durchpulst ein verborgener „Bauplan“, der ihre Schönheit noch erhöht, so wie zum Beispiel Ravel in seinen „Jeux d’eaux“ für Klavier die Schönheit barocker (d. h. künstlich gebändigter) Wasserspiele in einem faszinierenden Ineinander von perlend virtuoser Präzision und flirrender Sinnlichkeit zelebriert. Man hört, dass Ravel ein großer Verehrer von Bach, vor allem aber von Jean-Philippe Rameau (der seine Harmonielehre auf Prinzipien der Mechanik aufbaute) und François Couperin war: Die vorantreibende, fortspinnende Motorik barocker Musik bringt Geist (Kunst) und Körper (Natur) – man denke an die Körperbetonheit barocker Tänze, die auch die Sakralmusik der Zeit durchwirken! – in genau das Gleichgewicht, das auch Ravels künstlerisches Ideal war. Daher sind auch die barocken Formen und Tänze (Fuge, Präludium, Rigaudon, Forlane etc.), in deren Gewand sich Rameau in seinem berühmten Klavierzyklus „Le Tombeau de Couperin“ (Grabmal für Couperin, 1914–1917) hüllt, nicht nur wegen der modernen Harmonik viel mehr als bloße Kostümierung: Es ist eine Verlebendigung dessen, was für Ravel zeitlos war. Dass er jeden Satz des „Tombeau“ einem gefallenen Kameraden des 1. Weltkrieges – eine traumatische Erfahrung für den sensiblen Ravel – widmete, macht das „Tombeau“, in dem Ravel seine Kunst der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz entgegenhält, zu einer bewegenden kongenialen Reverenz an die barocken Vorväter und an das Leben selbst. Faszinierend, wie hier schon Ravels Liebe zum Jazz hereinspielt, den er – lange vor Jazz-Klassik-Projekten unserer Zeit – aufgrund seiner inneren Verwandtschaft mit dem Barock gleichsam „natürlich“ mit diesem verknüpft. Das wird besonders im 1. Satz seines Klavierkonzertes in G-Dur hörbar: Der an barocke Motorik erinnernde, ratternd vorantreibende „Drive“ des 1. Satzes entlädt sich nach einem „elektrischen“ Peitschenschlag, der das Wunderwerk Klavier-Orchester wie ein gigantisches Räderwerk von vielen kleinen (Spiel-)Automaten in Bewegung setzt. Für den „Modern Times“-Effekt sorgen verblüffende Gershwin-Anklänge, genauer an dessen „Rhapsody in Blue“, die der begeisterte Ravel während einer Reise in den USA gehört hatte. Gershwin solle lieber „ein erstklassiger Gershwin“ bleiben, statt ein „zweitklassiger Ravel“ zu werden, lautete entsprechend der Rat Ravels an den um Unterricht bittenden jüngeren Komponisten. Daraus spricht eine Weitsicht, die Ravel selbst durch seinen Lehrer Gabriel Fauré erfahren hatte, der den jungen Rebell selbst dann noch unterstützte, als dieser bereits durch zig Prüfungen gefallen war. Der fünfte (!) Versuch, den berühmten „Prix de Rome“ (Lili Boulanger, auch eine Schülerin Faurés, wird ihn 1913 als erste Frau gewinnen) zu erhalten, war an Ravels trotzig extra eingestreuten „Kompositionsfehlern“ gescheitert; ein Skandal, der 1905 das ehrwürdige „Conservatoire de Musique“ nachhaltig erschütterte, Ravels Ruf als spannendsten Nachwuchskomponisten seiner Generation aber eher festigte.

Tanz in den Abgrund: Bolero und La Valse

Eingefahrene Konventionen und Erwartungen philisterhafter Zeitgenossen wollte Ravel nicht bedienen. All dem drehte das „ewige Kind“, das in seiner Villa Besucher gerne mit Fälschungen berühmter Gemälde foppte, eine lange Nase. Auch sein süffisanter Hinweis, der Bolero enthalte „gar keine Musik“, ist ein einziges großes entlarvendes „Ätsch!“ in Richtung konventionell-bürgerliches Musikverständnis. Tatsächlich enthält der Bolero, ursprünglich ein Auftragsballett, keine Musik – wenn denn „Musik“ nur melodische Vielfalt und rhythmische Abwechslung, sprich: Bestätigung von Hörerwartungen sein soll. Wieder ist der „Uhrmacher“ – wie Kollege Igor Strawinsky in einem Mix aus Spott und Bewunderung sagte – am Werk: Die radikale Reduktion auf wenige „Bauteile“ – ostinato-Rhythmus (kleine Trommel), zwei komplementär verschränkte Melodien, die den Orchesterapparat von Instrument zu Instrument/Instrumentengruppe schlangenhaft durchwandern – und die einen Trance-Effekt bewirkende „Dauerschleife“, deren Monotonie nur durch feinst dosierte klangliche Änderungen (z. B. raffinierte Klangüberlagerungen) belebt wird, überführt Ravel in ein einziges gewaltiges Crescendo. Es mündet im wohl ekstatischsten Tonartwechsel der Musikgeschichte und in einer Aufgipfelung, der der totale Zusammenbruch folgt. Ein Ineinander von „Mechanik“ und „Urgewalt“, das im Grunde jedes Werk Ravels prägt – hier aber als Kolossalgemälde, wie er es auch mit seiner Wiener-Walzer-Katastrophe „La Valse“ (erste Skizzen 1914, Komposition 1919/20) entwirft. Dem Wiener Walzer hatte er bereits in seinen „Valses nobles et sentimentales“ (1911) gehuldigt, einer Reverenz an Franz Schubert, die bereits in fein abgründigen Details die überdimensionale Zertrümmerung andeuten, die „La Valse“ zum faszinierend-chaotischen Abgesang auf den Walzer und die bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts am Vorabend des 1. Weltkrieges machen. Auch hier wieder Ravel als – entlarvender – Meister der Maske und der Kostümierung: Hinreißend der „Wiener Schmelz“ in seiner perfekten Anverwandlung des Walzerklangs in seiner „Hommage à la mémoire de l’incomparable Johann Strauss“ (Vorwort der Partitur), die sogar bis zur charmanten „Schrammel-Musik“ in kleiner, nur von der Klarinette umwirbelten Streicher-Besetzung reicht. Dann aber entwickeln spiralartige Drehungen eine unheilvolle Schubkraft, die sich zum wahnwitzigen, alles mit sich reißenden Bacchanal steigern, das alles außer Kontrolle geraten lässt. Mit feinem Gespür inszeniert Ravel, dass der Walzer, entstanden aus bäuerlichen Ländlern, einst wegen des engen Körperkontaktes als „bacchantischer Wahnsinn“ verfemt war. Die „Zähmung“ seines dunklen Urgrundes (hörbar in den unheimlich raunenden, dunkel bohrenden Eingangstakten, die deutlich machen, warum Filmkomponisten wie John Williams oder Alexandre Desplat von Ravel schwärmen) durch die bürgerliche Kultur ist nur von kurzer Dauer: Die „Maschine“ gerät außer Kontrolle – das Archaische bricht sich Bahn. Der Bolero als Tanz im 3/4-Takt erscheint in „La Valse“ als todessüchtiger Wiener „Reigen“ à la Arthur Schnitzler – und der Mechaniker Ravel als Chronist und Prophet zugleich, der weiß, dass das Widerspiel von unbezähmbarer Natur und gestaltender Kunst die große Antriebs-, aber auch Vernichtungskraft menschlicher Existenz ist.

Maurice Ravel: Autographes Notat des ersten Themas des „Bolero“. Quelle: Bibliothèque nationale de France, Wikimedia Commons

Glühende Kathedralen – Liebhaber im Uhrenkasten

Die Fabriken an Rhein und Ruhr hatte der technikbegeisterte Ravel – Sohn eines Schweizer Erfinders und Ingenieurs, der einen Vorläufer des Automobils erfunden hatte – einst als „glühende Kathedralen“ bezeichnet.

Auch Ravels Werke sind „glühende Kathedralen“: Wer sie betritt, den erfasst die kühle Frische und die Grandiosität vollendeter Architektur – und zugleich die (von der baskischen Mutter ererbte?) glühende Fülle spanisch-barocker Sinnlichkeit.

Und noch in einem anderen Bild bzw. Werk gibt sich Ravel, der sich so gerne versteckte, zu erkennen: In seiner skandalumwitterten Oper „L’heure espagnole“ (Die spanische Stunde) bilden die monoton im Komplementärrhythmus tickenden Uhren und surrenden Apparate den hitzigen Kontrapunkt zu einem hocherotischen Versteckspiel, in dem eine Frau ihre Liebhaber in Uhrenkästen (!) versteckt … „Man muss sich nicht die Brust aufreißen, um zu zeigen, dass man ein Herz hat“, lautet ein andeutungsreiches Wort von Ravel – und man ahnt: Er ist der „Uhrmacher“ – und zugleich selbst der „Liebhaber“, dessen glühendes Herz im präzisen feinmechanischen Räderwerk all seiner Meisterwerke verborgen pocht. Aber auch ganz ohne „Fächer“ ist er momentweise zu erkennen: In der anrührend schwerelosen Melancholie etwa seiner Klavier-„Pavane“ für die kleine verstorbene spanische Prinzessin (lediglich wegen des Gleichklangs von „infante défunte“ komponiert, so Ravel bissig – aber derlei Ironie kennen wir ja schon von ihm) – in den verstörend abgründigen Augenblicken im Klavierzyklus „Gaspard de la nuit“. Völlig schutzlos erscheint er im zweiten Satz seines G-Dur-Klavierkonzertes: Ein in seiner unsentimentalen, schlichten Trauer und aufbrandenden Sehnsucht zutiefst ergreifendes Bekenntnis, das an den späten Brahms erinnert. Ein Ravel ohne Fächer, direkt in Auge und Herz blickend. Wie sehr Ravel, der infolge einer schweren neurologischen Erkrankung nach einer Hirn-OP verstarb, über Jahre darunter gelitten haben muss, die Fülle an Werken, die er noch im Kopf hatte, nicht mehr aufschreiben zu können, kann man nur erahnen. Das Räderwerk zerbrach – und mit ihm sein Innerstes. Er konnte sich nicht mehr verstecken.

Johann Strauss Sohn (1825–1899) Alles Walzer!

Dass das Weltall von Harmonie erfüllt ist, davon waren Philosophen und Musiker seit der Antike überzeugt. Was aber hätten sie dazu gesagt, dass die Planeten im ¾-Takt kreisen und man beim Computerspiel „Elite Dangerous“ zur Musik des „Donauwalzers“ an Raumstationen andockt? Dem Fortschrittsfan Johann Strauss jr. hätte es gefallen: Seine Wiener Musik, bewundert von Zeitgenossen und vital bis heute, bringt das Lebensgefühl einer ganzen Epoche und einer Gesellschaft zum Klingen, die sich wie im Rausch in die heraufziehenden Tragödien des 20. Jahrhunderts hineintanzt – die schmerzlich-nostalgischen Anklänge im späten „Kaiserwalzer“ verwirbeln sich in Maurice Ravels abgründigem „La Valse“ zur wahnwitzigen Apokalypse …

Der Walzer hat etwas Zeitloses, ganze Epochen, Generationen und Nationen Umfassendes. Wer sich erinnert, wie in den 90er-Jahren André Rieu mit dem „Second Waltz“ von Dmitri Schostakowitsch (Suite for Variety Orchestra Nr. 1) die Massen elektrisierte und alles – sogar der Dance Floor! – sich wieder einmal im 3er-Takt zu drehen begann, der begreift, welche Verführungskraft von diesem „Kaiser“ unter den Tänzen bis heute ausgeht. Der Tanz, im Altertum und noch heute bei vielen Kulturen Zugang zum Göttlichen, hat seit jeher die Phantasien unzähliger Komponisten bewegt. Sämtliche Wiener würden wohl Kirchenvater Augustinus begeistert zustimmen, der da riet: „Oh Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engeln (oder: Engerln) nichts mit Dir anzufangen.“ Der 3er (Gott Vater – Gott Sohn – Heiliger Geist) ist seit jeher für den Himmel reserviert: Im „tempus perfectum“ jubeln – und tanzen! – noch bei Bach im „Gloria“, die himmlischen Heerscharen. Im tanzwütigen Barock – schon im 17. Jahrhundert wird Wien als Mittelpunkt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zur führenden Musikmetropole Europas – kommt es zu diesem Ineinander von Kultiviertheit und untergründiger Archaik, welches im Laufe des 19. Jahrhunderts seine ganze Ambivalenz entfaltet. „Der Kongress tanzt“ hieß es schon 1814/1815 ironisch, als – wo sonst? – in Wien nach den Napoleonischen Kriegen unter Staatskanzler und Despot Metternich rauschende Bälle mit schönem Schein die Restauration vorrevolutionärer absolutistischer Kräfte und die Unterdrückung liberal-demokratischer Bestrebungen glanzvoll verschleierten (noch der unter dem Stalin-Regime leidende Schostakowitsch knüpft an dieses abgründige Moment des Walzers an). Ein Helldunkel, was den Walzer bis heute nie ganz verlassen hat.

Vom Bauerntanz zur Visitenkarte Wiens

Der Walzer, der einst als derber Bauernländler oder „Deutscher“ aus süddeutschem Raum schon den jungen Goethe berauschte und wegen seiner „Unsittlichkeit“ vielerorts verboten wurde, wird als Instrument der Verführung zum Markenzeichen der Stadt Wien als glanzvollem Mittelpunkt des Habsburgerreiches – und zum Soundtrack seines Untergangs. Die auseinanderstrebenden Kräfte des riesigen Vielvölkerstaates entwickeln in Aufständen und Kriegen eine Spaltkraft, die im Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand (Sarajevo 1914) explodieren und den – von Schriftstellern der Wiener Moderne wie Arthur Schnitzler schon lange vorhergesehenen – Ersten Weltkrieg auslösen.

Die trauererfüllte Coda im „Kaiserwalzer“, komponiert 1889 im Jahr des Selbstmordes des eigentlichen Thronfolgers Rudolf (Sohn von Franz Joseph I. und Elisabeth, genannt „Sisi“), wirkt bereits wie ein Abgesang auf eine untergehende Epoche – nach außen hin freilich war er als Festmusik zur österreichisch-deutschen Freundschaft konzipiert. Nach aller Prachtentfaltung entwirft Strauss kurz vor dem Finale einen zeitlosen Moment in intim kammermusikalischer Besetzung: Eingeleitet vom schwebenden Pulsieren hoher Holzbläser, wiederholt zunächst das Solo-Cello – sehr wienerisch im Schmelz und doch ergreifend schlicht – das erste Walzerthema (man achte auf das „Uhrticken“ in der Harfe), bevor die Solo-Flöte wie entrückt an das bestimmende zweite große Walzerthema erinnert. Ihr Triller löst jedoch nochmals eine wirbelnde Schubkraft aus, die diesen monumentalen Walzer (auffallend die vielen „militärischen“ Elemente, Marsch-Einleitung mit kleiner Trommel, Trompeten-Signale etc., die an den „Soldatenkaiser“ Franz Joseph I, generell an die Bedeutung des Militärs und der Militärmusik im Habsburgerreich erinnern) in straff kaiserlicher Würde beschließt.

Licht und Schatten im 3/4-Takt

Nicht nur hier wird hörbar, dass Strauss – bei aller geradezu „industriellen“ Musikproduktion, die den Hunger der tanzversessenen Gesellschaft zu stillen suchte, was auch zu einer regelrechten Bauwut von Ballhäusern führte und weitere Walzergrößen wie Joseph Lanner und Carl Michael Ziehrer förderte – nicht nur musikalisch ein überaus feinsinniger „Registrator“ war: Er hatte ein feines Gespür für die Zeitläufte und die Wiener Mentalität, die sich seit jeher zwischen Lebensfreude und Todesnähe, oberflächlichem „Tritsch-Tratsch“Schein und augenblickshafter, inniger Eigentlichkeit im 3er drehte. Durchgehend werden die Verschattungen in seinen Werken – Spiegelbild auch seines eigenen von Leistungsdruck und Ängsten geprägten Wesens, in dem der bittere Konkurrenzkampf mit dem berühmten Vater (führender Walzerkomponist seiner Zeit und Schöpfer des „Radetzky“-Marsches) und die familiär-brüderlichen Spannungen der „Firma Strauss“ nachwirken – in unnachahmlichen Dur-Moll-Beleuchtungswechseln spürbar, die Teil eines faszinierenden musikalischen Kosmos sind. Wahl-Wiener Johannes Brahms, selbst dem Walzer sehr zugetan, beneidete Strauss um seinen nie versiegenden melodischen Erfindungsreichtum: Da gibt es weit ausgreifende, sangliche Melodien voller Schmelz – eine schöner und „ohrwurmträchtiger“ als die andere – , denen fein dosierte Chromatik (z. B. die Seufzer-Motivik im Oboen-Solo in der „Fledermaus“Ouvertüre und im Begleitsatz dazu) leuchtende Farbigkeit verleihen. Die Beweglichkeit des Satzes gründet in einer rhythmischen Feinmechanik, deren Sogwirkung in allererster Linie vom typisch Wienerischen, federnd anhebenden „Vorziehen“ der zweiten Zählzeit im 3er lebt: Ein Bewegungsmuster, dem Strauss zudem durch die typischen rubato-seligen „Schwebephasen“ und einem subtilen Einsatz des „Schlag“werkes (das man bei ihm gar nicht mehr so nennen möchte!) Leben einhaucht. Die Bewunderung vieler Zeitgenossen war ihm sicher: „Mozart des Walzers“, nannte ihn Camille Saint-Saëns, Tschaikowsky hauchte der Walzereleganz russische Seele ein – und auch Wagner, dessen „Tannhäuser“-Musik Strauss noch vor der offiziellen Premiere in Wien dem Volksgarten-Publikum (!) in Potpourri-Form zugänglich gemacht hatte, zollte ihm bei aller Differenz als „Meister seiner Art“ – vor allem aber auch seinem ungeheuren Talent als Musikunternehmer – gebührenden Respekt.

Ein vielstimmiger Kosmos

Strauss’ musikalischer Kosmos, der neben Walzern, Märschen und Polkas auch weltberühmte Operetten wie „Die Fledermaus“ oder „Eine Nacht in Venedig“ umfasst, speist sich aus vielen Quellen: Unzählige Musiksprachen des habsburgischen Vielvölkerstaates, etwa aus Italien, aber auch aus den slawischen Staaten und Ungarn mit ihren komplexen Rhythmen und farbigen Melodien klingen hier herein. Wien war die Stadt Mozarts, Haydns, Beethovens – und Schuberts: Seine Werke, gerade auch die vielen „Gelegenheits“-Walzer und Ländler, nehmen in ihrer leisen Abgründigkeit schon das Helldunkel bei Strauss vorweg, das noch die Musik seines Erben Robert Stolz durchziehen wird.

Donauwalzer, Titelblatt einer der ersten Ausgaben 1867. Foto: Kollektionen Walter Anton, Wikimedia Commons

Die Musik der Klassiker war zur Zeit Strauss’ präsent – vor allem in Salonkultur und Hausmusik, und besonders auch in der Militär- und Regimentsmusik (Strauss wurde 1848 Kapellmeister der Kapelle des 2. Wiener Bürgerregiments), die im öffentlichen Raum Bearbeitungen klassischer Werke in die Breite brachten. Johann Strauss Senior, der bereits den einst derben Walzer zu einer bürgerlich salonfähigen Kunstform erhoben und die typische Mehrteiligkeit mit Einleitung, Walzerfolge und Coda entwickelt hatte, die sein Sohn perfektionieren sollte, wollte einen Bankangestellten aus dem Junior machen. Dass dieser aber im Umkreis der berühmten väterlichen Tanzkapelle die ganze Wiener Tanz- und Unterhaltungswelt förmlich einsaugte, dagegen konnte er nichts tun, wie er auch nicht verhindern konnte, dass die Mutter den Jungen heimlich vom ersten Geiger, von Hofkapellmeistern und von Wiener Kirchenmusikern unterrichten ließ. Genau das dürfte auch die kunstvolle Stimmführung und satztechnische Transparenz bei Strauss beeinflusst haben, zu dessen Erstlingswerken geistliche (!) Kompositionen gehören: Die Sakralmusik als traditionsreicher Nährboden, von dem noch Anton Bruckner zehren sollte.

Natur und Technik: Der Walzer als Triebfeder des Lebens

Wie bei Bruckner, der in seinen kathedralhaften Werken gerne auch mal zum Ländler aufspielt, so spielt auch bei Strauss die Volksmusik im Prater und im Wiener Umland eine zentrale Rolle: Hier dürfte ein wesentlicher Grund für den innigen Tonfall der Strauss’schen Musik liegen. Die Spaziergänge und Ausfahrten Beethovens und Schuberts führten schon ins „Grün“ der bäuerlichen Tanzmusik – ein „back to the roots“ für den Walzer. Zahlreich sind die Anklänge bei Johann Strauss: Da gibt es wehmütige Zither-“G’schichten aus dem Wiener Wald“ (op. 325), Geigen-Jodler, launig-melancholische Klarinetten-Soli, die den Höhenflug der „Dorfschwalben“ (op. 164) in der Sommerwärme volkstümlicher Terz- und Sextenparallelen nachzeichnen – „schrummelnde“ Begleitfiguren, die an alte bäuerliche Instrumente wie Dudelsack und Leier erinnern, spielen zum „Danz“ auf. Mit allerlei Vogelund Naturstimmen entwirft Strauss in seinen Werken Tanz-Pastoralen, die auch Beethovens Naturgemälde zum Vorbild haben. Bei aller Naturliebe war Johann Strauss aber auch – wie viele seiner Komponistenkollegen (z. B. Antonín Dvořák), ein großer Technikfan, der die Wiener Weltausstellung von 1873 musikalisch begleitete: Die rasante Fortschrittsdynamik (Eisenbahn, Telegraphie, Elektrizität) seiner Zeit – so gar nicht nach dem Geschmack des erzkonservativen Kaisers – durch-pulst schnelle Polkas wie „Telegraphische Depeschen“ (op. 318) oder den „Motoren-Walzer“ (op. 265). Die schwindelerregenden Chromatik-Spiralen des „Accelerationen“-Walzers (op. 234) weisen bereits auf Ravels Walzer-Apokalypse voraus: Die hochexplosive Verbindung von sich verselbstständigender moderner Technik und Walzer/Tanz als Ausdruck naturhafter Sinnlichkeit steht für die Antriebs-, aber eben auch für die Vernichtungskräfte menschlicher Existenz. Der Tod hat immer schon in der Kunst getanzt: In Wien tanzt er Walzer. Genau diese Abgründigkeit machte den Wiener Walzer auch für den Film so spannend, was nicht nur damit zu tun hat, dass er immer noch unsere Sehnsucht nach Schönheit, nach den „guten alten Zeiten“ sofort zu „triggern“ vermag, was ein weiterer in Wien sehr erfolgreicher Komponist, Richard Strauss, für die erinnerungsschweren Fieberträume seiner Walzer bewusst nutzte. Stanley Kubrick spannt in berühmten Filmen wie „Eyes Wide Shut“ (1999, basierend auf Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“) und „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) Strauss’ Musik mit den sphärischen Auflösungstendenzen und der gedrängten Motorik der Musik György Ligetis zusammen, um das Widerspiel zwischen menschlichem Willen und der Fragilität menschlicher Existenz in Bild und Klang sinnfällig zu machen. Nicht erst mit seinen vielen erfolgreichen Reisen rund um den Globus hat Strauss (Gershwin setzte ihm mit „By Strauss“ im Broadway-Musical „The Show is On“ ein liebevolles Denkmal) den Walzer zu einem globalen Massenphänomen gemacht, das noch heute sehr präsent im Konzertsaal, in Popkultur und Werbung ist: Diese Musik trifft in Licht und Schatten den Kern des menschlichen Wesens – ein sehr wienerisches, zugleich weltumfassendes „Ja“ zum Leben inmitten aller krisenhaften Verwirbelungen unserer Existenz.

Dr. Edda Güntert