Bei der Suche nach neuen Wegen für die „traditionelle“ Blasmusik entwickeln viele Blasorchester und Musikvereine neue Konzertformen. Beliebt ist hierbei die Kombination von Erzählung und Musik: So etwa bieten Kissenkonzerte bereits den Jüngsten einen niedrigschwelligen Zugang zum Konzerterlebnis. Durch aktives Zuhören wird ein erster Kontakt zur Blasmusik geschaffen. Aber nicht nur für Kinder ist die Kombination von Erzählung und Musik ein Hochgenuss. Und so „neu“ ist sie gar nicht …!

In der aktuellen, schnelllebigen Zeit wird es für klassische Blasorchester und Musikvereine zunehmend schwerer, die Konzerthallen mit Zuhörerinnen und Zuhörern zu füllen. Was auf dem Land vielleicht noch eher machbar ist, stellt in größeren Städten mit einem ausgeprägten kulturellen und sportlichen Angebot eine zunehmende Herausforderung dar: Wie kann ich als Verein nicht nur meine Zuhörer halten, sondern auch neue gewinnen? Wie gelingt es uns weiterhin, die Jugend für das Erlernen eines Instruments zu begeistern? Diese Fragen stellt sich beispielsweise auch der Musikverein Freiburg-Zähringen. Mit seinem großen Blasorchester, der Big Band und der Unterhaltungskapelle SymBadisch Zähringen ist der Verein gut aufgestellt. Im Bereich der Nachwuchsausbildung umfasst sein Angebot Blockflötenunterricht und Instrumentalunterricht (Holz-, Blech- und Schlaginstrumente) mit studierten Lehrkräften sowie ein Jugendorchester. Dennoch bleibt die Nachwuchsarbeit eine große Herausforderung.

Gar nicht so neu und doch hochaktuell: Erzählkonzerte für Kinder

Im Mai 2019 – vor Corona – beschlossen Dirigent und Vorstand, gemeinsam ein erstes Kissenkonzert für Kinder aufzuführen. Ziel war es, dank eines solchen Formats – anstatt Stuhlreihen sollen alle Zuhörerinnen und Zuhörer ein Kissen mitbringen und sich entspannt auf den Boden vor die Bühne setzen – bereits die Jüngsten für Musik zu begeistern und einen niedrigschwelligen Zugang zum Konzerterlebnis zu bieten.

Instrumentenkarussell beim Erzählkonzert MV Zähingen, Kind mit Tuba.

Anfassen erwünscht! Beim anschließenden Instrumentenkarussell steht den Kindern die Neugier und Freude förmlich ins Gesicht geschrieben.

Inhaltlich ist die Verbindung von Erzählung und Musik jedoch nicht neu: „Peter und der Wolf von Sergei Prokofjew ist 1936 geschrieben worden, Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck 1891, der Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns 1886! Also insofern ist Musik, die dafür geeignet ist, schon seit einer Weile da. Allerdings entstanden die ersten Formen von Kissenkonzerten für Kinder in den 80ern durch Programme großer Orchester, um ihr junges Publikum aktiv einzubeziehen. Viele Opern- und Konzerthäuser (z. B. Berliner Philharmoniker, Tonhalle Zürich) bieten seit den 2000er-Jahren regelmäßig Kissenkonzerte an. Hierfür sind natürlich Werke mit Erzählenden oder Schauspielenden prädestiniert“, erklärt Thierry Abramovici, der das große Blasorchester seit 2009 dirigiert. Auf dem Programm des ersten Kissenkonzertes des Vereins stand der Klassiker „Peter und der Wolf“, aufgeführt in der Turnhalle einer Freiburger Grundschule, die zum Bersten voll war. Im Anschluss folgte ein Instrumentenkarussell, bei dem die Kinder die soeben gehörten Instrumente nach Lust und Laune ausprobieren konnten.

Musik hilft, die Geschichte mit dem Ohr „zu sehen“ – oder umgekehrt

Was aber ist das Besondere an einem Kissenkonzert? Was unterscheidet ein „normales“ Konzert von einer erzählten Geschichte mit Orchester und Sprecher?

Thierry Abramovici: „Beim „normalen“ Konzert steht die Musik für sich, als autonome Kunstform, das Publikum hört analytisch und/oder emotional zu. Bei einer erzählten Geschichte mit Orchester illustriert die Musik die Erzählung, es entsteht eine enge Verbindung zwischen Ton, Text und Dramaturgie. Die Musik wird nicht nur gehört, sondern „erzählt“. Bei dieser Art Konzerte mit Erzähler sind die Kinder emotional mitgenommen, die Konzentration wird dadurch auf natürliche Weise trainiert. Da ein guter Erzähler Figuren, Themen oder Stimmungen lebendig machen kann, können die Kinder tiefer in die Musik eintauchen.

Thierry Abramovici, Dirigent Musikverein Freiburg-Zähringen, Dozent BDB-Musikakademie. Foto: Daniel Müller-Feldmeth

Thierry Abramovici dirigiert seit 2009 den Musikverein Freiburg-Zähringen und ist Dozent an der BDB-Musikakademie in Staufen.Foto: Daniel Müller-Feldmeth

Kurzum, durch eine erzählte Geschichte haben die Kinder eine direkte Verbindung mit der Musik, die sonst für sie zu abstrakt sein kann – vor allem bei klassischen Werken.“

Auch mit Ensembles möglich: Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“

Kissenkonzerte sind auch in Form kleinerer Ensembles möglich: Noch unter dem Eindruck der Corona-Beschränkungen folgte 2022 in kleiner Besetzung das musikalische Märchen „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck – unter freiem Himmel im Schulhof einer Freiburger Grundschule. Wieder mit großem Andrang und viel Lärm, möchte man meinen; das Gegenteil ist jedoch der Fall, und das unterstreicht vielleicht gerade auch die Worte Abramovicis: „Sobald der erste Ton erklingt, die Stimme des Erzählers durch den Lautsprecher dringt, wird es still: Mit offenen Mündern und großen Ohren lauschen auch die Kleinsten der Geschichte.“ Humperdinck hat sich vieler Volksliedfragmente bedient, aber tatsächlich nur drei Volkslieder unverändert verwendet: „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?“, „Ein Männlein steht im Walde“ und „Schwesterlein, hüt’ dich fein!“. Viele der weiteren Melodien aus dem als Kinderoper komponierten Werk (z. B. „Brüderchen, komm tanz mit mir“ und der „Abendsegen“) sind erst im Anschluss zu Volksliedern geworden.

Franco Césarinis „Der gestiefelte Kater“

Anfang Mai dieses Jahres fand schließlich das dritte in der Reihe der Kissenkonzerte statt: Der Musikverein Freiburg-Zähringen lud seine jüngsten Zuhörerinnen und Zuhörer zu „Der gestiefelte Kater“ von Charles Perrault aus dem 17. Jahrhundert, in welchem der gestiefelte Kater seinem Herrn – einem Bauern – mit List und Schläue zu Reichtum verhilft.

Peter Ritter, Erzähler des „Gestiefelten Katers“. Foto: Daniel Müller-Feldmeth

Sorgt für die Bilder im Kopf: Peter Ritter als Erzähler des „Gestiefelten Katers“. Foto: Daniel Müller-Feldmeth

Der Komponist Franco Césarini ließ sich von der vollkommenen Schlichtheit und Natürlichkeit der Erzählung inspirieren und setzte sie 2013 in ein musikalisches Märchen um, das sich dank der Erzählerstimme von Peter Ritter auch in Szene setzen ließ. Das rund 23-minütige Stück nahm auch diesmal eine große Zahl an Kindern und deren Eltern auf eine Bilderreise mit, auf der sie dem gestiefelten Kater auf dem Fuße folgen konnten.

Wird bei Peter und der Wolf jedem Charakter ein eigenes Instrument zugewiesen (die Violinen begleiten den kleinen Peter, das Fagott knurrt wie der Großvater, die Hörner künden drohend den Wolf an), so sind es bei Humperdincks Hänsel und Gretel die zahlreichen Volksweisen, die den Protagonisten zugeordnet werden (Hänsel und Gretel, die Hexe); bei Césarini ist es immer das gleiche Thema, das sich in abgewandelter Form wiederholt – mal als Polka, mal als Walzer, als Galopp … und somit der Geschichte passend zum Inhalt Farbe verleiht.

Nicht nur für Kinder! Hybride Konzertformate für Erwachsene

Immer größerer Beliebtheit erfreuen sich aber auch „hybride“ Konzertformate für Erwachsene: Ob mit Videoprojektion, Erzähler, Tanzeinlagen – hier werden mehrere Sinne zugleich angesprochen. „Dies ist sicherlich eine Möglichkeit, mehr Menschen in die Konzerte zu locken, Menschen, die vielleicht sonst nicht kommen würden. Diejenigen, die klassische Konzerte als „elitär“ empfinden, fühlen sich durch erzählerische Nähe eher angesprochen. Wie bei Kissenkonzerten werden Figuren oder Emotionen greifbarer und erleichtern den Zugang zur Musik. Wenn man einen richtig guten Erzähler hat, kann das Erlebnis einmalig sein!“, so Thierry Abramovici. „Jede Genre-Verschmelzung ist für das Publikum und die Musiker sehr erfrischend und zeigt auch, dass die Musik in sich sehr viel Potenzial und Möglichkeiten trägt und nicht nur etwas Abstraktes ist. Selbstverständlich sollen „normale“ Konzerte weiter stattfinden. Die Blasmusik hat ein sehr reiches Repertoire, mit hoch qualitativer Musik, und gut gemachte Konzertprogramme können immer noch das Publikum neugierig machen und begeistern.“

Eigene Ideen umsetzen: Literarische Werke als Grundlage für selbst kreierte Erzählkonzerte

Die Liste der Erzählkonzerte ist umfangreich, aber gerade auch in diesem Format bietet sich viel Raum für eigene Kreativität. Die unerschöpfliche Fülle an literarischen Werken ebnet den Boden für selbst entwickelte Erzählkonzerte. Hier auch wieder die Frage an Thierry Abramovici: Du hast die Erzählung vom „Kleinen Prinzen“ von Antoine de Saint-Exupéry selbst für ein Konzert aus verschiedenen Kompositionen zusammengestellt. Kannst du ein bisschen mehr zu diesem Schaffensprozess berichten? Wie bist du dabei vorgegangen? Welche Tipps kannst du anderen Dirigenten geben, wenn sie selbst eine ähnliche Idee umsetzen möchten? Thierry Abramovici überlegt: „Es war ein langer Prozess. Zuerst musste ich mich mit dem Text befassen (ich hatte eine verkürzte Fassung, da das ganze Buch nicht machbar gewesen wäre) und musste ihn mehrere Male lesen. Dann musste ich entscheiden, nach welchem Textabschnitt (oder während) die Musik laufen sollte. Es war auch sehr wichtig, dass die Balance zwischen Text und Musik stimmt. Nicht zu viel Text, nicht zu viel Musik. Oder wann verlangt oder erlaubt der Text eine musikalische Pause beziehungsweise Begleitung? Letztlich versuchte ich zu spüren, welche Passage welche Emotion oder welches Bild bei mir hervorrief. Jedes Mal überlegte ich, was für eine Musik da passen würde: traurig, verträumt, nostalgisch, fröhlich, bedrohlich, schwermütig? Nachdem mir dies klar war, ging ich auf die Suche nach passender Musik (ob ganze Stücke oder Abschnitte). Da der Text mich sehr inspiriert hatte und ich mittlerweile viel Musikliteratur kenne, ging es glücklicherweise schneller als erwartet. Trotzdem dauerte es schon ein paar Monate, bis ich mit meiner Auswahl zufrieden war. Ich habe keine speziellen Tipps zu geben. Wichtig ist meiner Meinung nach, sich mit dem Text zu identifizieren und ihn zu verinnerlichen, um eine gute Auswahl zu treffen. Man braucht viel Geduld, viel Zeit für die musikalische Recherche und möglicherweise eine breite Literaturkenntnis, das hilft sehr.“

Anette Weigold