Ragtime – und Klassik? “Syncopations”, “african roots” – und Bach? Dass beide Welten mehr miteinander verbindet, als man zunächst glauben mag, lässt sich anhand der Geschichte des Sarabande-Tanzes zeigen. Über das kulturell tonangebende Frankreich des tanzbegeisterten Ludwig XVI., über Italien und Spanien führt der Weg der “sarabanda” zurück in die spanischen Kolonien Mittel- und Südamerikas. Dort vermischten um 1600 afrikanische Sklaven ihre Musik mit indigenen und spanischen Klängen, um dem neugeborenen Jesuskind, eigentlich aber dem kongolesischen Gott “Nsala-Banda” zu huldigen. Rund 120 Jahre später wird die Sarabande, in Frankreich zum höfischen Tanz geadelt, neben Allemande und Gigue zum expressiven Höhepunkt der Partiten und Suiten Johann Sebastian Bachs. Dass der Joplin-Fan und “Bürgerschreck” Paul Hindemith 1921 Bachs Fuge Nr. 2 in c-Moll als wild-grotesken “Ragtime (wohltemperiert)” inszeniert und den empörten Bach-Puristen noch hinterher ruft, Bach “hätte den Shimmy” (einen skandalträchtigen afroamerikanischen Mode-Tanz) “erfunden”, ist zum einen bewusste Provokation. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Sarabande jedoch wirken Hindemiths “Bach Syncopations”, die gewissermaßen die “black notes” in Bachs rhythmisch energievoller Musik hervorkehren, zugleich als Vorgriff auf heutige Lesarten von Barockmusik – und von Musikgeschichte, in der das Ineinander der Kulturen, von “black” und “white notes” immer schon Quelle ihres Fortschritts und ihrer herausragendsten Erscheinungen war.
Für Scott Joplin gehörten “black” und “white notes” zusammen wie die schwarzen und weißen Tasten auf seinem Klavier. Der Ragtime, eng verbunden mit dem afroamerikanischen “Cakewalk”-Tanz und eine der vielen musikalischen Quellen des Jazz, war keine Erfindung Joplins. Mit seinen zündenden Rhythmen aber machte er den Ragtime, der bis dato eher improvisiert dargeboten wurde, als notierte Musik zu der “american classical music” schlechthin: Vor allem in Frankreich lösten Gastspiele der Brass Bands von John Philip Sousa und James Reese einen wahre “Ragimitis” aus, die Komponisten wie Erik Satie, Igor Strawinsky und den bereits erwähnten Paul Hindemith zu eigenen Beiträgen inspirierte. Claude Debussy schrieb mehrere Ragtimes, darunter den berühmten “Golliwogg’s Cake-Walk”, den wohl berühmtesten Satz aus dem Klavier-Zyklus “Children’s Corner”, in dem er musikalisch seinen Spott über Richard Wagners berühmten “Tristan”-Akkord ergießt. Dank seines deutschstämmigen Klavierlehrers Julius Weiss, der ihn kostenlos unterrichtete, hatte Joplin die Musik Bachs, Chopins, Schuberts und die Opern Verdis und Wagners lieben gelernt. Der Sohn eines befreiten Sklaven verband die europäischen Klänge mit den Tänzen und Liedern afroamerikanischer Tradition, die in seiner Familie mit Gesang und Banjo-Spiel gepflegt wurden. Das Klavier, das er dank der Fürsprache seiner Mutter, die bei den weißen Besitzern putzte, benutzen durfte, wurde dem kleinen hochbegabten Jungen zum Schlüssel für eine Welt, in der Bildung den Weg zu einem erfolgreichen und sozial verankerten Leben zu weisen schien. Um seinen Platz als anerkannter Komponist musste Joplin, der lange auf befristete Engagements In Bars, Bordellen und diskriminierenden “Minstrel Shows” angewiesen war und zeitweise als reisender Kornettist in einer “music band” spielte, lebenslang ringen, gab es doch für afroamerikanische Musiker nur wenige Möglichkeiten, professionell zu arbeiten. Diese wenigen Chancen aber versuchte der ehrgeizige junge Mann zu nutzen: Der Erfolg seines Vokalensembles “The Texas Medley Quartet”, mit dem Joplin als Sänger und Pianist durch den Süden der Vereinigten Staaten tourte, gründete wesentlich in seiner Fähigkeit, harmonisch höchst reizvolle Effekte durch eine ausgefeilte Stimmführung zu erzielen – eine im Wortsinn vokale Qualität, die er auf das Klavier übertrug. Joplins Ragtimes entwickelten sich über die Jahre zu subtilen Charakterstücken, in denen sich eine chromatisierte, die typischen Oktavsprünge in der linken Hand beweglicher gestaltende Bassführung mit einer farbenreichen Dur-Moll-Durchdringung und einer zunehmend verfeinerten “Rag”-Synkopierung verbinden: Afroamerikanische “Impromptus” oder “Moments musicaux”, die an die Mazurken und Walzer Chopins, auch an die Tänze und Märsche Schuberts denken lassen, in denen sich Volks-, Gelegenheits- und Kunstmusik, Melancholie und Heiterkeit verbinden. Diese Anklänge werden freilich erst hörbar, wenn man Joplins ausdrückliche Anweisung befolgt, seine Ragtimes “nicht schnell” (“It is never right, to play Ragtime fast”) zu spielen – was wohl weniger als Tempoangabe, denn als Hinweis auf eine besonders bewusste und damit wertschätzende Haltung beim Spiel seiner Ragtimes zu verstehen ist.
Wertschätzung erfuhr vor allem sein berühmter “Maple Leaf Rag”, der mit über einer Million verkauften Exemplaren zu den ganz großen Hits in der amerikanischen Musikgeschichte gehört. Der mit dem Musikverleger John Stark geschlossene Vertrag von 1899 (ein Ausschnitt ist im Joplin-Zimmer des BDB Kulturhotels zu sehen) verschaffte Joplin Tantiemen und damit die Sicherheit und Unabhängigkeit, die er für sein Lebensprojekt brauchte: Heldin seiner einzig erhaltenen Oper “Treemonisha” (1907, Klavierauszug 1911, Joplins eigene Orchestrierung ist verschollen) ist eine junge schwarze Frau, die ihre Bildung einsetzt, um ihr Volk in eine freie, selbstbestimmte Zukunft zu führen (erst ab 1965 konnten Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner das ihnen bereits 1920 zugestandene Wahlrecht ohne Einschränkung nutzen). Arien, Rezitative und Chorszenen nach europäischen Vorbild verbindet Joplin mit Ragtime-Rhythmen, Spirituals-Melodik und Barber Shop-Ensembles – ein faszinierender musikalischer “melting pot”, mit dem Joplin gut zwanzig Jahre vor George Gershwins “Porgy and Bess” seinem Volk den Weg auf die Opernbühne bahnen wollte. Eine vollständige Aufführung sollte er jedoch nie erleben: Zu gewagt erschien manchen das Thema, zu wenig erfolgversprechend den anderen eine Oper eines schwarzen Komponisten, mit dessen Ragtimes sich weitaus leichter Geld verdienen ließ. Die Enttäuschung darüber zerrüttete Joplins Gesundheit: 1917 starb er in einem New Yorker Hospital in geistiger Umnachtung, ausgelöst durch eine in Jugendjahren erlittene Syphilis-Infektion. Zuvor hatte er zahlreiche seiner Werke vernichtet.
Erst in einem halben Jahrhundert werde der Wert seiner Musik erkannt werden, soll Joplin gesagt haben. Tatsächlich wurden die 1970er Jahre Schauplatz einer einzigartigen Joplin-Renaissance (1975 erste professionelle Aufführung von “Treemonisha”, 1976 posthume Verleihung des Pulitzer-Preises), zu der sicher die coolen Rag-Rhythmen des Hollywood-Streifens “Der Clou” mit Robert Redford und Paul Newman und das Ballett “Elite Syncopations” (Kenneth MacMillan) des Royal Ballet London beitrugen. Dass es aber vor allem ein renommierter Bach-Experte, der Musikwissenschaftler, Dirigent und Pianist Joshua Rifkin war, der die Ragtimes mit seinen bahnbrechenden Aufnahmen dem Vergessen entriss und Joplin einen Platz unter den großen Namen der Musikgeschichte sicherte, wirkt vor dem Hintergrund von Joplins Schicksal und der jahrhundertealten, wechselvollen, schmerzlichen und schöpferischen Geschichte des Miteinanders von “black” und “white notes” so versöhnlich wie folgerichtig.
Text: Dr. Edda Güntert