Dass ein Dienstherr seinen Kapellmeister unter Androhung von Waffengewalt zurückfordert, ist einzig in der Musikgeschichte, war aber sicher nicht im Sinne des friedliebenden Heinrich Schütz: Moritz von Hessen-Kassel, künstlerischer Ziehvater des wegen seiner schönen Gesangsstimme schon als Kind vom Landgrafen geförderten Gastwirtssohnes, wollte seinen Hofkapellmeister keinesfalls dem Dresdner Hof überlassen – an dem Heinrich Schütz dann aber doch im gleichen Amt bis in sein 72. Lebensjahr wirkte. Nicht nur Landgraf Moritz begriff früh, dass hier ein Komponist Musik von besonderer Qualität und europaweiter Strahlkraft schuf: Die Lobpreisungen, die auf Schütz zu Lebzeiten verfasst wurden, reichen von “Licht Deutschlands” bis zum “Vater unserer modernen Musik” und füllen ganze Bücher.
Ausgehend von seiner umfassenden Ausbildung am Collegium Mauritianum Kassel und vor allem in Venedig bei Orlando di Lasso-Schüler Giovanni Gabrieli verband Schütz die Klangsinnlichkeit der künstlerisch führenden italienischen – katholischen – Musik (z. B. Raumwirkung durch prachtvolle Mehrchörigkeit) mit der Wortgebundenheit protestantischer Kirchenmusik. In der Folge seiner italienischen Anfänge (Primo Libro de Madrigali) ließ Schütz der Musik eine Sprach- und Ausdruckskraft von bisher ungekannter Intensität zuwachsen, die im Verein mit ausgefeilter Satzkunst den Weg nicht nur für das Schaffen Johann Sebastian Bachs bereitete, sondern bis in die Wort-Ton-Beziehung der Liedkunst eines Schubert und Schumann wirkt: Seine Musik spürt der Sprache auf allen Ebenen feinnervig nach, lässt diese (z. B. in Takt- und Rhythmuswechseln, Setzweise und Stimmführung, Verzierungen und den sog. rhetorischen Figuren, die die Worte und Bilder der Texte musikalisch nachzeichnen) vibrieren und pulsieren – etwas, was für die ausführenden Musiker, aber auch für den Hörer immer wieder auch körperlich “be-greifbar” wird und doch auch zugleich von ernsthafter Frömmigkeit getragen wird. Hier kommen Geist und Körper, Diesseitigkeit und Transzendenz in Musik und Sprache in einer Weise zusammen, wie es nicht allein für das Werk Bachs bestimmend werden wird.
Mitten in den “Kriegs-Läufften”, die Schütz dazu zwangen, mit Werken für kleinere und kleinste Besetzungen (die sog. “Kleinen geistlichen Konzerte”) für den Erhalt der darniederliegenden Musik zu kämpfen (“Musik muss eben aufgeführt werden, um zu sein” – Wolfgang Rihm), wirkte er in Dänemark und reiste nach Komposition seiner Musik zum Bühnenfestspiel “Dafne” (1627), die als erste deutsche “Oper” gilt, nach Italien, um sich – vermutlich – auch bei Claudio Monteverdi über die neuesten Entwicklungen zu informieren. Schütz hielt unbeirrbar fest an der Musik – und am Glauben, dessen Botschaft er in seiner Musik beharrlich umkreiste und anderen Menschen zugänglich machte: Ein “fünfter Evangelist” noch vor Bach, der ihn – wie später Johannes Brahms und Nadia Boulanger, die beide zu seiner Wiederentdeckung wesentlich beitrugen – sehr schätzte. Dass Schütz auf die ewige Frage, was den Menschen in der Zerbrechlichkeit seines Daseins trägt, mit seiner Kunst lebenslang Antworten zu geben suchte, wird in seinem eigens gedichteten Trauergesang für seine jung verstorbene Frau Magdalena, der radikal schlichten Bewusstheit seiner späten “Johannes-Passion” und in den “Musikalischen Exequien” auf besonders bewegende Weise deutlich: Seinen Freund Fürst Heinrich II. Posthumus Reuß, der bereits zu Lebzeiten seinen Sarg mit bewusst ausgesuchten Bibelversen schmücken lässt, bettet Heinrich Schütz in seine ebenso kraft- wie trostreiche Musik, die dem Freund und allen Menschen Unvergängliches verheißt. Mitten im Tod umgeben vom Leben – und geborgen in der Musik. Ein ergreifendes Vermächtnis des “Musicus poeticus”, der für die Musik und für seine Musiker kämpfte, weil er um die lebenserhaltende Bedeutung der Kunst gerade in Krisenzeiten wusste: Auch hierin ein “Licht”, ein leuchtendes Beispiel für uns moderne Menschen.
Text: Dr. Edda Güntert