Bach? Aber nein: Telemann, den europaweit tonangebenden Komponisten und Musikdirektor Hamburgs wollte die Stadt Leipzig 1722 für das ehrenwerte Amt des Thomaskantors haben. Bereits in seiner Leipziger Studentenzeit (nur der besorgten Mutter zuliebe hatte er dort ein Jurastudium begonnen) hatte sich Telemann in der Stadt einen Namen gemacht: Als Leiter der Oper, als Schöpfer neuartiger geistlicher Werke und mit der Gründung des bürgerlichen “Collegium musicum”, einem aktuelles Repertoire spielenden Studenten-Ensemble, das Bach später übernehmen und aus dem das berühmte Gewandhausorchester hervorgehen sollte. Das Pokerspiel mit dem Hamburger Stadtrat um “Mehr Gehalt – oder Leipzig” gewann schließlich Telemann: Hamburg zahlte mehr – Telemann blieb und macht Hamburg zu einem Mekka der Musik, so wie er schon zuvor Frankfurt zu einem blühenden Musikzentrum geformt hatte. 46 Jahre prägte er als Lehrer am Johanneum, als Leiter der fünf Hauptkirchen und der Oper am Gänsemarkt, als bestens vernetzter Musikunternehmer und geschäftstüchtiger Verleger das musikalische Leben der Hansestadt. Dazu gehörten auch sogenannte “Kapitänsmusiken” zur festlichen Unterhaltung für die Feiern der Hamburger Admiralität. Ein Garten besteht nicht nur aus Rosen und Tulpen, sondern eben auch aus allerlei Blattgrün – und so hatte für Gartenfreund und Blumenzüchter Telemann, der auch im “Orchester-Garten” instrumentale Klangfarben und kühne Harmonik höchst effektvoll einzusetzen wusste, Musik eine für alle Menschen zugängliche, sowohl erhebende als auch unterhaltende Kunst zu sein: “Wer vielen nutzen kann, thut besser als wer nur für wenige was schreibet” war seine innerste Überzeugung.
Zahlreiche Instrumente hatte sich Wunderkind Georg Philipp selbst beigebracht. Fast wäre aus einer Musikerlaufbahn nichts geworden: In typisch mütterlicher Sorge (“Kind, mach was Vernünftiges!”) hatte Johanna Maria Telemann dem kleinen vierjährigen Halbwaisen Instrumente und Notenpapier gleich wieder weggenommen – aus Angst, er könne ein mittelloser “Seiltänzer” oder gar ein “Murmelthierführer” werden, wie Telemann in seinen überaus vergnüglich zu lesenden autobiographischen Schriften erzählt. Seine musikalische Forscherlust hatte die Mutter jedoch nicht eindämmen können: Schon der junge Komponist hatte ein untrügliches Gespür für die je eigenen Farb- und Ausdrucksqualitäten verschiedener Instrumente. Die innige Vertrautheit mit den Anforderungen und Möglichkeiten eines Instrumentes spricht etwa aus seinem Violakonzert in G-Dur, das erste bekannte, das für dieses bisher nur als klanglicher “Lückenfüller” agierende Instrument geschrieben wurde. Seine Kombinierfreude an verschiedenen Streicherbesetzungen führte schließlich zur Verbindung zweier Violinen mit Viola und Cello, weshalb Telemann – noch vor Haydn – als Gründervater des Streichquartetts gilt, dieser für die Musikgeschichte so folgenreichen “Königsgattung” der Kammermusik.
Besonders die Blasinstrumente hatten es Telemann angetan. Dem von ihm sehr geschätzten Chalumeau, einem heute wenig bekannten Blasinstrument, verlieh er eine eigene Stimme, indem er mehrere Werke für diese zart-intime, klarinettenähnliche Instrument schrieb. Er sei ein “Vater und Schöpfer guter Instrumentalduette”, lobte der berühmte Flötenlehrer Friedrichs des Großen und innovative Flötenbauer Johann Joachim Quantz den älteren Komponisten, der die Traversflöte gerne auch mal mit der Blockflöte im Duett wetteifern ließ. Kein anderer Komponist hat auf so vielfältige Weise für Blasinstrumente geschrieben und die klanglichen und spieltechnischen Möglichkeiten in immer neuen Besetzungen und mit hörbarem Vergnügen an klanglichem Glanz, empfindsamen Sentiment und spielfreudig virtuoser Gewandtheit ausgelotet. Mit über fünfzig Bläserkonzerten hat Telemann wesentlich zur Emanzipation und Entwicklung bestimmter Blasinstrumente und Besetzungen beigetragen. Kein Wunder, dass sich Telemanns Name auch mit dem Beginn der “Harmoniemusik” verbindet, jener ab etwa 1770 Furore machenden Besetzung für Freiluftkonzerte und festliche Tafelmusik: Über Mozarts Bläserserenaden wie der “Grand Partita” (Serenade Nr. 10 in B-Dur KV 361 für zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Bassetthörner, vier Waldhörner, zwei Fagotte und Kontrabass) und die entsprechende Werke Haydns und Beethovens war die Harmoniemusik überaus folgenreich für die Entwicklung der Bläserkammermusik wie des Blasorchesters allgemein. “Gib jedem Instrument, was es leiden kann, so hat der Spieler Lust, du hast Vergnügen dran” fasste Telemann in gewohnt treffsicherer Formulierung seine Ziele zusammen – und man fragt sich, was Telemann wohl mit dem 1840 von Adolphe Sax erfundenen Saxophon angestellt hätte! Sicher hätte er auch dem Saxophon Werke auf den glänzend gewundenen Leib geschrieben. Dabei hätte er auch wieder auf das geachtet, was ihm “Fundament zur Music in allen Dingen “ war: Das Singen auf dem Instrument und mit der menschlichen Stimme selbst, für die Telemann gleichfalls wundersam schöne Werke geschrieben hat. Lust an einer “geläufigen Gurgel” (Mozart) verbindet sich mit einer sprachlichen und seelischen Regungen feinnervig nachspürenden Melodik, die Telemann auch für Sängerinnen und Sänger, sei es Solo oder im Chor, zu einem absoluten “Lieblingskomponisten” macht.
Alles um ihn her inspirierte Telemann: Die ihm vielfach vorgeworfene “Vielschreiberei” war dem neugierigen und vielfach begabten Komponisten schlicht Ausdrucks-, ja Seinsbedürfnis. Naturerscheinungen wie Erdbeben und Unwetter, Hamburger “Ebb’ und Fluth”, der Tod seines Kanarienvogels, das Quaken der Alster-Frösche (für das er geradezu modern anmutende dissonierende Klänge, Chromatik und kühne Modulationen verwendete) inspirierten ihn ebenso wie die Heilsgeschichte der Bibel, große Werke der Weltliteratur oder die mitreißende Kraft polnischer Volksmusik, die er kühn mit dem französischen und italienischen Stil vermischte. Telemann war stets “up to date” und bis ins hohe Alter von 86 Jahren mit trotz vieler Schicksalschläge ungebrochenem Humor musikalisch kreativ. Mit 3600 Werken (darunter Opern, Kantaten, mehrere Passionen, Messen und Oratorien) ist er der Schöpfer eines faszinierenden musikalischen Universums, das bis zur Frühklassik reicht. Johann Sebastian Bach hielt große Stücke auf seinen Freund, den er zum Paten seines Sohnes Carl Philipp Emmanuel machte. Sehr zum Unverständnis so manches frühen Biographen hatte Bach (dessen Urteil man dann doch eher hätte vertrauen sollen) noch im hohen Alter Werke von Telemann abgeschrieben – während wiederum Bach zugeschriebene Werke sich als originäre Werke Telemanns entpuppten! Einen “Avantgardisten seiner Zeit” nennt ihn Wolfgang Rihm – und wirklich war Telemann in vielen Dingen ein Vorreiter und Impulsgeber: 100 Jahre vor Robert Schumann führte er deutsche Vortragsbezeichungen ein, gründete die erste deutsche Musikzeitschrift (“Der getreue Musicmeister”), beförderte die Entwicklung der Kantate, des Solokonzerts und des Streichquartetts. Nicht zuletzt war er Gründervater einer bürgerlichen Musikkultur, die bis in unsere Tage wirkt. Sein berühmter Hamburger Garten, belebt auch von Blumengeschenken seines langjährigen Freundes Georg Friedrich Händel, ist leider verloren. Mit jedem seiner Meisterwerke, das wiederentdeckt und aufgeführt wird, erblüht aber sein prachtvoller musikalischer Paradiesgarten wieder aufs Neue.
Text: Dr. Edda Güntert