Hohelied der Schöpfung

“Thank you for the music”: In einem der schönsten ABBA-Songs, begleitet von Benny am Klavier, singt Agnetha: “Who found out, that nothing can capture a heart/Like a melody can? Well, whoever it was, I’m a fan.” Die Musik selbst hat Monteverdi natürlich nicht erfunden – obwohl man es bei der Schönheit und Intensität seiner Musik gerne glauben möchte. Genau genommen hat er auch die Oper nicht erfunden, wie es immer wieder zu lesen ist. Claudio Monteverdis Name wird dennoch zu Recht stets in einem Atemzug mit der Entstehung der Oper und der Emanzipation der Melodie genannt: Sein “Orfeo” von 1607 überhöht die sprachlich-musikalischen Ideen der eigentlichen Erfinder Jacopo Peri und Giulio Caccini, die im intellektuellen Club der sog. “Florentiner Camerata” den Sologesang (oder was sie dafür hielten) der antiken Tragödie wiederbeleben wollten, in solch überragender Weise, dass seine Deutung der Geschichte um den mythischen Sänger, der mit seinen Melodien Menschen bewegt, wilde Tiere zähmt und selbst die Unterwelt bezwingt, als Gründungsurkunde des modernen Musiktheaters gilt. Ohne Monteverdi also keine Oper – aber auch in anderer Hinsicht müssten Agnetha, Benny, Björn und Anni-Frid eigentlich “Fans” von Claudio sein: Wie kein zweiter wusste der 1567 in Cremona geborene, am Hof der Fürsten von Gonzaga in Mantua wirkende Monteverdi, dass es vor allem die Kraft der Melodie ist, die die Seele bewegt und das Menschliche in all seinen Facetten zum Ausdruck bringen kann. Würde Monteverdi heute leben, wäre er wohl genau deswegen einer der gefragtesten Film- und Werbemusik-Komponisten: Die majestätisch auftrumpfende Fanfare, die er als Auftrittsmusik für die prunkliebenden Gonzaga-Fürsten geschrieben hat und die zugleich den “Orfeo” und die einzigartige “Marienvesper” eröffnet, hat über 400 Jahre später nichts von ihrer packenden Kraft verloren: Einer der ersten erfolgreichen “Jingles” der Musikgeschichte!

Das eigentlich Menschliche aber, das den Hof- und Kirchenmusiker Monteverdi künstlerisch brennend interessierte, musste zu seiner Zeit jedoch erst einmal überhaupt in den Fokus rücken. Kunst und Musik hatten vor allem um das Göttliche zu kreisen, das sich auch im Perfektionsanspruch mehrstimmiger Satzkunst (etwa in der sog. Motette, der vokalen Hauptgattung der Zeit) spiegelte. Strenge Kompositionsregeln orientierten sich an der Ordnung der göttlichen Schöpfung (“Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.” Weish, 11,20). Dass aber das menschliche Herz weder Maß noch Regeln kennt, dass Liebe, Glück und Schicksal alles “Wohlgeordnete” zum Einsturz bringen, zugleich aber etwas Neues hervorbringen können, war etwas, was den neugierigen Monteverdi faszinierte. Darin war er ganz Kind einer Umbruchszeit: Mit der Landung Kolumbus’ in Amerika 1492, der kopernikanischen Wende und mit den revolutionären Erkenntnissen Johannes Keplers und Galileo Galileis (dessen Vater Vincenzo – Lautenist, Musiktheoretiker und Mitglied der “Florentiner Camerata” – Monteverdi gut kannte) brach die Neuzeit an, die auch in der Bildenden Kunst revolutionäre Geister wie Bernini oder Caravaggio hervorbrachte. Auch im Laboratorium seiner Musik begann der begeisterte Hobby-Alchimist Monteverdi, der u. a. mit Quecksilber experimentierte, zu forschen. Dabei ließ er es in seiner Musik, die schon von den Zeitgenossen als “modern” bezeichnet wurde, ordentlich “krachen” – ohne jedoch die altehrwürdige Sakralmusik, die ja Vokalmusik war (die instrumentale Musik galt im Vergleich dazu lange als “minderwertig”,dem weltlichen Alltag zugehörig), und vor allem die Kunst des polyphonen, regelkonformen Satzes als “überholt” zu diskreditieren. Davon zeugt z. B. die ihn als Meister der regelkonformen Satzkunst ausweisende a capella-Messe “Missa in illo tempore”, die er 1610 gemeinsam mit der “Marienvesper”, einem der bedeutendsten Werke der sakralen Musikgeschichte, als “Bewerbungsmappe” Papst Paul V. widmete, um sich in Rom vorzustellen. Mit dem Job in Rom klappte es nicht: Es wurde doch das liberale, von so vielen verschiedenen kulturellen und musikalischen Einflüssen geprägte Venedig, wo Freigeist Monteverdi als angesehener Kantor des berühmten Doms zu San Marco ab 1613 bis zu seinem Tod im Jahr 1643 wirkte. Gemeinsam mit dieser Messe im “alten Stil” (stile antico) hatte Monteverdi dem Papst mit der “Marienvesper” ein Werk vorgelegt, das das neue Welt- und Menschenbild und Monteverdis eigenes Anliegen, in seiner Musik Göttliches und Menschliches als voneinander untrennbar darzustellen, in einer heute noch Staunen machenden Ausdruckskraft in Musik goss: Lobpreisungen der Gottesmutter in vollstimmig chorischer Polyphonie vereinen sich mit intimeren, die erotische Bildlichkeit der Liebesgesänge des salomonisches “Hoheliedes” klangsinnlich nachzeichnenden sog. “Concerti”. Solo- und Duo-Gesänge zu instrumentaler Begleitung machen in schlichten, liedhaften Melodien die Einheit von Geist und Körper, Andacht und Extase unmittelbar erfahrbar. Selbst für den Geistlichen Monteverdi (1632 hatte er, der früh seine Frau und während einer Pestepidemie einen seiner Söhne verloren hatte, die priesterlichen Weihen empfangen) waren das offenbar keine Gegensätze – noch mit über 70 Jahren besang er in seiner späten Oper “Die Krönung der Poppea”, einem wahren “sex and crime”-Kassenschlager, in unvermindert leidenschaftlicher Klangsprache die irdische Liebe. Seine sakrale “Marienvesper” ist ein zukunftsweisendes, alle damaligen Besetzungs- und Klangmöglichkeiten einsetzendes “Hohelied” einer Schöpfung, in der auch das vormals als minderwertig, sündhaft Geltende seinen Platz hat, ja sogar gefeiert wird.

Genau hier setzt Monteverdi seinen neuen Musikstil ein, den er in Abgrenzung zur “prima pratica”, also zum alten, regelkonformen Kompositionsstil, “seconda pratica” nannte: Vor allem seine Madrigale – eine weltliche Gattung, die alle Facetten der irdischen Liebe umkreiste und schon vor Monteverdi mehr Freiheiten gestattete – wurden sein “Experimentier-Labor”, in dem er den Ausdrucksgehalt dichterischer Texte (z. B. Freude, Leid, Todessehnsucht) musikalisch nachzeichnete. Das Herz kennt keine Regeln: Der hochexpressiven Poesie solcher Dichter wie Torquato Tasso oder Francesco Petrarca nachspürend, lässt “Tondichter” Monteverdi die Menschen in Intervallsprüngen verzückt jubeln und entsetzt aufschreien, macht ihr Seelenleid mit schneidenden, ohne stimmführungstechnisch korrekte Vorbereitung, sprich: “falsch” eintretenden Dissonanzen schmerzhaft fühlbar, lässt sie sich in chromatischen Linien aufwärts und vor allem abwärts (der berühmte sog. “passus duriusculus”, ein “etwas schwerer Gang”) qualvoll winden und in Generalpausen zu Boden stürzen. Im Dienst des Textes – und des menschlichen Herzens – warf Monteverdi über den Haufen, was bis dahin unantastbar schien. Damit öffnete der der Musik ganze neue Ausdruckswelten, handelte sich aber auch gehörigen Ärger ein: Legendär ist der Streit mit dem Musikgelehrten Giovanni Artusi, der das ganze “moderne Zeug” als Angriff auf geltende Autoritäten sah – und doch später der Verführungskraft der Musik des “divino Claudio” (einer seiner vielen Ehrentitel) bewundernd erlag. Ein weiterer Monteverdi-Fan also – wie Nadia Boulanger, die neben Paul Hindemith (dessen frühe “Orfeo”-Inszenierung auf einen jungen mitspielenden Cellisten namens Nikolaus Harnoncourt wie ein “Blitzschlag” wirkte) als eine der ersten Spezialistinnen für Alte Musik Werke Monteverdis aufnahm und zu seiner Wiederentdeckung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wesentlich beitrug. Fans auch wie die vielen Jazzer, die Monteverdis “walking bass”, mit dem er seinen Orpheus die Tiefen der Unterwelt und der menschlichen Psyche durchwandern lässt, bis heute aufgreifen. In vielen Jazz-Standards, Pop- und Rock-Songs (z. B. “Hotel California” von den Eagles) hat der sog. “Lamento”-Bass, eine absteigende Tonfolge im Raum einer Quarte – eine DER Formeln für Leid, Trauer, Schmerz, die über Schütz, Purcell und Bach bis in unsere Zeit musikalisch wirken – eine wahrhaft tragende Rolle bekommen. Kein Wunder, dass heute Songs von Sting wie “Shape of my heart” mit den sich wiederholenden, melancholischen Bassschritten von Alte Musik-Ensembles ganz selbstverständlich neben Monteverdis “Lamento della Ninfa” aufs Programm gesetzt werden.

Überhaupt der Bass: Im Verein mit einer Melodiestimme, die aus dem Verband gleichberechtigter Stimmen (Polyphonie) hervortritt, also in der sogenannten “Monodie” als Solo-Stimme hörbar wird, wird der Bass zum Fundament eines nicht mehr linearen, sondern akkordisch-vertikalen Denkens. Noch in Jean-Philippe Rameaus “basse fondamentale” klingt das Schaffen Monteverdis nach. Ohne ihn hätten sich weder Oper noch Lied, weder Sonate noch Konzert (im Sinne von Solo und Begleitung) so entwickelt, wie wir es heute gewohnt sind. Mit Monteverdi bekommt die Musik ein menschliches Antlitz und ein pochendes Herz – sie erzählt von den bleibenden großen Geschichten des Lebens und klingt auch deshalb noch nach 400 Jahren unvermindert intensiv, wie z. B. Paolo Fresùs melancholische Jazz-Interpretation der Liebesklage “Si dolce e il tormento” eindrucksvoll belegt. “But I have a talent, a wonderful thing/’Cause everyone listens when I start to sing” heißt es bei ABBA – das war auch das große Talent von Maestro Claudio, der in seiner Oper “Orfeo” die personifizierte Musik singen lässt: “Ich bin die Musik, die in süßen Tönen jedem aufgewühlten Herz Frieden schenken/Und mit edlem Zorn wie mit Liebe noch die kältesten Seelen in Flammen setzen kann.” So I say: Thank you for the music, grazie per la musica, divino – oder besser: humano Claudio.

Text: Dr. Edda Güntert

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