ABBA. Welthits aus der Drachenhöhle

Am 6. April 1974 kam der Drache zum ersten Mal aus seiner Höhle. Mit “Waterloo” gewinnt ABBA als erste schwedische Band den Eurovision Song Contest und erobert im Sturm den Pop-Olymp: Mit schrillen Klamotten, unfallträchtig hohen Plateauschuhen, Björns legendärer Stern-Gitarre und einem Song, der mit seiner unkonventionellen Frische und Energie die den Grandprix bisher dominierenden schwerblütig-melodramatischen Balladen einfach wegfegt. Selbst schärfste Kritiker – denn unumstritten war ABBA nie, vor allem nicht in ihrer Heimat Schweden, wo ihnen und ihrem Manager Stig Anderson von der linken Progg-Bewegung “Kommerzialisierung von Musik” vorgeworfen wurde – erliegen letztlich doch der Verführungskraft einer so zuvor nie gehörten Pop-Musik. ABBA: Weltweit über 350 Millionen verkaufte Tonträger, ein kaum überschaubares Netz von Einflüssen in die Pop- und Disco-Musik über Erasure, Madonna, Roxette und Avicii bis hin zu Lady Gaga und Taylor Swift. Ein milliardenschweres Imperium mit Musicals, Filmen, Merchandising und einem eigenen Museum in Stockholm. Ein Phänomen: Schillernd zwischen Glamour und Kitsch, gehasst und geliebt (vor allem auch von der LGBTQ Community), fesselnd, aber kaum fassbar, eine Erscheinung der 70er und 80er Jahre – und doch zeitlos. Mit der virtuellen Avatar- oder besser: Abbatar-Show “Voyage” in London, der 2021 nach fast 40 Jahren die lang ersehnte Wiedervereinigung für das gleichnamige Album voran ging, ist das 2024 mit dem königlichen Vasa-Orden ausgezeichnete Quartett, das nur zehn Jahre (ca. 1972-1982) aktiv wirkte, auf dem Weg in die Unsterblichkeit.

Benny Andersson spricht gerne vom “Drachen” oder vom “Warten vor der Drachenhöhle”, wenn es um Inspiration, um das Ringen um einen großen Song geht. Ein starkes, zugleich tief ambivalentes Bild: Schöpferische und zerstörerische Kraft, Licht- und Schattenseiten künstlerischer Existenz sind eng miteinander verbunden. Genau davon konnte ABBA mehr als ein Lied singen.
Viel von den verehrten Beatles steckt in dem Song “Ring ring”: In seinem ansteckenden Gute Laune-Drive und dem lautmalerischen Refrain, dessen eingängige Melodik den Song zu einem der ersten ABBA-Ohrwürmer machte, ließ dieser Song bereits erahnen, dass mit diesem Quartett zu rechnen war. Der Song war 1973 beim schwedischen Vorentscheid zum Grandprix noch durchgefallen. Auch beim Bandnamen hatte man sich noch nicht einigen können. Beim “Eurovision Song Contest” 1974 in Brighton jedoch wurde aus dem schwedischen Quartett Agnetha Fältskog, Björn Ulvaeus, Benny Andersson und Anni-Frid “Frida” Lyngstad, bestehend aus zwei Ehepaaren, vor allem aber aus höchst erfahrenen, in verschiedensten Stilen und Genres beheimateten Musikern und Sängerinnen quasi über Nacht das Phänomen ABBA (was wiederum eine gleichnamige Fischkonservenfabrik auf den Plan rief, die aber bald die Vorteile der Namensgleichheit zu nutzen wusste). Die raffinierte Spiegelung im Logo (ob nun eine Erfindung von Designer Rune Söderqvist oder, wie die Legende erzählt, durch ein hastiges Falschherum-Halten beim Fototermin entstanden) vermittelt viel von der engen inneren künstlerischen und menschlichen Verschmelzung von vier herausragenden Talenten: Eine Symbiose, die zu ihrem überragenden Erfolg, mit den bald auftretenden Spannungen aber auch zum Scheitern der Ehen und dem Ende der Band 1982 beitragen sollte, in der aber zugleich die immer wieder phoenixgleichen Revivals der Band gründen.

ABBA – das sind vor allem diese Frauenstimmen: Der warm timbrierte Mezzo Anni-Frids, geformt vom Jazz und geschult durch Operngesang – dazu der helle, obertonreiche und über ein tragfähiges, wie ein Silberstrahl anmutendes Vibrato verfügende Sopran Agnethas, der jede Melodie zum Ereignis machte. Ob als Solo, im Duett oder in diesem typisch kristallinen Chorklang (z. B. “Super Trooper”, die Chor-Einwürfe in “Does your mother know”), der durch die berühmte “Wall of Sound” (Stimmen werden mehrfach aufgenommen und übereinander geschichtet) zustande kam: Sobald die Frauen die Lead Vocals – nach langem Zögern der Männer – anvertraut bekamen, ging es für ABBA sprunghaft nach vorne.

Die beiden Männer wiederum waren schon früh mit ihren jeweiligen Bands, den “Hep Stars” (Benny), den “schwedischen Beatles”, und den “Hootenanny Singers” (Björn) erfolgreich gewesen. Der wilde Mix aus Klassik, Oper und Operette, Jazz, Schlagern, Pop und vor allem Volksmusik, mit dem beide groß geworden waren, begründete die ungeheure Vielseitigkeit des kongenialen Duos. Man kann durchaus von Instrumentierungskunst sprechen: Ein dichter, in unabhängigen Stimmen und klanglichen Elementen (z. B. die orientalisch anmutende Keyboard-Linie in “Summer Nights City”) transparenter Satz, der von bestimmten Sound-Effekten, Instrumenten, ihrer Klangfarben und auch ihrer semantischen Kraft lebt. Wie zum Beispiel in “The Piper” die Flöte, dieses Instrument mit uralter Geschichte, gemeinsam mit Marsch-Trommeln, renaissanceartigen Tänzen und dem geheimnisvollen Chor zu den lateinischen Versen “Sub luna saltamus” die Verführungskraft eines “Rattenfängers” zeichnet, ist einfach magisch. Nicht aus dem Kopf geht auch auch das choralartige “Lay all your love on me” oder die legendäre rollende Hookline von “Gimme gimme gimme”, die in Madonnas Hit “Hung up” ein zweites Leben erhielt: Trotz Synth-Effekt verrät diese Linie in ihrer archaischen Tonfolge, wie sehr vor allem der begnadete Akkordeonist und Bach-Verehrer Benny die Alte Musik liebt – und vor allem die nordische Volks- und Tanzmusik, ohne die ABBAs Musik nicht denkbar ist. Hinzu kommt das feine Text-Musik-Gespür von Björn, der genau weiß, mit welchen sprachlichen Bildern und Klängen Gefühle und Bilder im Kopf entstehen – und welche Refrains zu welchen Rhythmen derart in den Körper fahren, dass man über Stunden einfach nur eines will: Tanzen! Mag sein, dass es auch weniger tiefgründige Texte im Repertoire gibt: Aber wer schon mal aus vollem Hals “Waterloo” oder “Gimme Gimme Gimme” geschmettert hat oder Worte wie “Chiquitita” oder “Voulez-vous” über die Zunge gleiten lässt, hört und spürt, dass auch Wortklang und -rhythmus einen Hit zu einem Hit machen. Und das Gehör war und ist bei ABBA zentral, denn beide Männer haben immer wieder betont, dass sie Noten weder lesen noch schreiben können…

Das alles bildet die “Essenz” (Björn Ulvaeus), um die sie mit Gitarre und Klavier in der legendären Hütte auf der Insel Viggsö oft bis in die Nacht rangen. Das Scheitern ihrer Ehen, der Druck einer öffentlichen, mit Entführungsdrohungen und Stalking verbundenen Künstlerexistenz (hier zeigte sich vor allem bei der sensiblen Agnetha der Drache in seiner vernichtenden Kraft), Anni-Frids Lebensgeschichte als “tysker barn”, als Kind eines Wehrmachtssoldaten, das seine Mutter früh verlor und sich mit norwegischen und schwedischen Volksliedern tröstete – der melancholische Ton vieler ihrer Songs (Benny verweist immer wieder auf die Musik Edvard Griegs und Jean Sibelius’) zeugt von all diesen Geschichten. Wer z. B. “The winner takes it all” hört, spürt, dass sich ABBA hier mit der uralten Geschichte von verlorener Liebe in einer musikalischen Sprache bewegt, wie sie immer auch schon große klassische Werke prägte: Wie nach der ermattend absinkenden, an romantische Klavierlieder erinnernden Piano-Einleitung, die in ihren Grundtönen schon den Refrain vorwegnimmt, die einsame Stimme Agnethas einsetzt (“I don’t wanna talk”) und dann sich die erst resignativ kleinschrittige, wie fragend kreisende Melodik im Refrain durch die wohl leidenschaftlichsten forte-Septimausbrüche der Popmusik (“The winner takes it all” – ”Beside the victory”) weitet – das ist zutiefst bewegend. Eine Liebesklage, wie sie im sensiblen Reagieren der Musik auf den Text in der Tradition barocker und romantischer Musik, etwa eines Claudio Monteverdi oder Robert Schumann steht. Gerade bei den Versen “But tell me, does she kiss/Like I used to kiss you” spielt Benny eine in den zupackenden Akkordtürmen geradezu an Tschaikowsky erinnernde Klavierbegleitung – und wer muss nicht schlucken, wenn nach den Versen “And I understand/You’ ve come to shake my hand” (hier dünnt Benny den Begleitsatz aus, wie um die Endgültigkeit dieser Verse noch zu betonen) die Worte durch eine wehmütige Streicher-Geste in der Begleitung versinnlicht werden. “Aus meinen großen Schmerzen mach’ ich die kleinen Lieder” heißt es bei Heinrich Heine – und auch das ist wohl eines der vielen Erfolgsgeheimnisse ABBAs: Kleine große Lieder über das Leben und seine zeitlosen Themen zu schreiben. Lieder, die auf der ganzen Welt über alle Zeiten und Generationen hinweg verstanden werden. Große Musik. Der Drache lebt.

Text: Dr. Edda Güntert

Videos und Hörbeispiele